Highlights einer schon allzu langen Geschichte

In der ersten Veröffentlichung der gerade frisch gegründeten Erlaßjahr2000-Kampagne schrieben wir 1998 im Geleitwort, wir wollten der gerade startenden Bewegung die kleine Broschüre „auf ihren hoffentlich kurzen Lebensweg mitgeben“. Die Idee bei der Gründung war, durch eine kurze konzentrierte Anstrengung einen weit reichenden Schuldenerlass für möglichst viele Länder zu erreichen. Heute, mehr als zwanzig Jahre später, gibt es uns – wenngleich in veränderter Form – immer noch. Ein Grund, die Geschichte noch mal von vorne anzusehen.

September 1997: Gruppenbild mit Sonne

1997 WuppertalEine Bewegung für den Erlass der Schulden armer Länder gab es schon seit den 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik. Sie bot ein buntes Bild von kirchlichen Initiativen und Entwicklungsorganisationen über verschiedene linke Parteien und autonome Gruppen bis zu Teilen der großen Kirchen. Seit 1992 existierte der „Initiativkreis Entwicklung braucht Entschuldung“, aus dem heraus sich die Gründungsversammlung der „Initiative Erlaßjahr2000“ auf dem „Heiligen Berg“ in Wuppertal rekrutierte. Weil es eben darum gehen sollte, mit einer einmaligen Kraftanstrengung einen großen Schuldenschnitt zu erzwingen, wurde keine Organisation gegründet, sondern ein informelles Netzwerk, das rechtlich vom SÜDWIND-Institut in Siegburg getragen wurde. Im Zentrum unserer Arbeit stand schon damals die Forderung nach einem fairen und rechtsstaatlichen Staateninsolvenzverfahren.

Juni 1999: Höhepunkt, nicht Endpunkt von Erlaßjahr2000

Kölner Kette 1999Rund 35.000 Menschen kreisten die Kölner Innenstadt und in ihr die Staats- und Regierungschefs der G8 ein. 15.000 weitere demonstrierten mit Rigoberta Menchú am Rande des Stuttgarter Kirchentags für einen Schuldenerlass. Zahllose Veranstaltungen rund um den Kölner Gipfel diskutierten alle möglichen Facetten des globalen Schuldenproblems. Die gerade frisch gewählte rot-grüne Bundesregierung setzte sich geschickt an die Spitze der Bewegung, erweiterte die drei Jahre zuvor gegründete Entschuldungsinitiative für hoch verschuldete arme Länder (→ HIPC-Initiative) und baute die damalige Entwicklungsministerin Heidi Wieczorek-Zeul zum Entschuldungs-Champion auf.

Juni 2000: HIPC – eine Erfolgsgeschichte?

„Ja“, fand Wieczorek-Zeul, als sie mit uns zum Jahrestag der „Kölner Kette“ öffentlich Bilanz zog. Für uns saßen der spätere Generalsekretär der Vereinten Evangelischen Mission, Fidon Mwombeki aus Tansania, und der spätere Erdölminister Ecuadors, Alberto Acosta, auf dem Podium, und fanden das nicht. Tansania erreichte wie die meisten HIPCs erst nach 2005 ein tragfähiges Schuldenniveau (s.u.) und Ecuador war erst gar nicht berücksichtigt worden.

Januar 2001: „FTAP“

Die wachsende Zusammenarbeit mit Kolleg*innen in Bewegungen aus verschuldeten Staaten im Süden förderte auch deren Unbehagen mit dem Begriff „Staateninsolvenz“ zutage, weil sie darin eine Art Stigmatisierung ihrer Länder sahen, durch ein Problem, das der Globale Norden zumindest mitverursacht hat. Wir versuchten unsere zentrale Forderung zu präzisieren und „neutraler“ auszudrücken. Heraus kam das „Faire und Transparente Schiedsverfahren“ (engl. Fair and Transparent Arbitration Process) oder kurz: „FTAP“. Ein hoch präzises, aber schwer auszusprechendes Four Letter Word.

September 2001: Aus Erlaßjahr2000 wird erlassjahr.de

2003 Kirchentag Berlin01Vereinbarungsgemäß endete das Engagement der mehr als 2.000 Mitträgerorganisationen der Erlaßjahr2000-Kampagne im September 2001. Wir hatten mit der halbherzigen HIPC-Initiative und der anhaltenden Krise in zahlreichen Schwellenländern allerdings überhaupt nicht das Gefühl, „fertig“ zu sein. Also fragten wir die Mitträger, wer von ihnen weitere Schritte mitgehen wolle, und etwa die Hälfte blieb dabei. Unsere Leihmutter SÜDWIND entließ uns in die Unabhängigkeit und wir wurden ein eingetragener Verein.

Juni 2003: Ökumenischer Kirchentag in Berlin

2003 Kirchentag Berlin05Der erste ökumenische Kirchentag bot den Resonanzboden für eine große Entschuldungs-Demonstration durch das Berliner Regierungsviertel. Mehr als 5.000 Teilnehmer/innen brachten das sperrige FTAP auf die Formel „Fair entschulden!“ Margot Käßmann und Claudia Roth waren die Gastrednerinnen vor dem Brandenburger Tor.

 

 

Juli 2005: Wir sind in der Financial Times und die G8 in Schottland

Die Umsetzung der HIPC-Initiative für die ärmsten Länder hatte sich zu einem argen Krampf entwickelt und wir drängten die G8, endlich sämtliche Forderungen an die ärmsten Länder zu streichen. Dafür unterschrieben und finanzierten mehr als 1.000 Bürger*innen eine ganzseitige Anzeige in der Financial Times Deutschland. Beim Gipfel im schottischen Gleneagles wurden die HIPC-Staaten dann tatsächlich fast komplett entschuldet (unter der Multilateral Debt Relief Initiative – MDRI).

Juni 2007: Die G8 in Heiligendamm und jede Menge rote Ballons in Rostock

2007 Illegitime Schulden HeiligendammWenn ein Schuldner zahlen kann, soll er dann auch zahlen? Nein, wenn die Forderung des Gläubigers unter zweifelhaften Umständen zustande gekommen und deswegen illegitim ist. Quer durch die Republik sammelten Mitträger vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm Unterschriften auf hunderten großen roten Ballons für die Streichung illegitimer Schulden. Die Ballons ergaben nicht nur ein eindrucksvolles Bild in einer großen Rostocker Hauptkirche, sondern auch bei der zentralen Anti-G8-Demonstration.

September 2008: Illegitime Schulden konkret: der Kohl-Suharto-Kriegsschiffdeal

Kann man das theoretisch ziemlich schlüssige Konzept der illegitimen Schulden auch praktisch anwenden? Dank der seinerzeitigen Aufmerksamkeit der DDR-Friedensbewegung wurden wir auf einen besonders schmutzigen Deal aufmerksam: Bundeskanzler Kohl hatte 1992 den größten Teil der DDR-Marine an den indonesischen Diktator Suharto verhökert und die Bundesregierung kassierte für den kreditfinanzierten Deal Jahr für Jahr Zinsen und Tilgungen. Zusammen mit der Evangelischen Kirche von Westfalen gaben wir bei einem renommierten Völkerrechtler ein Gutachten in Auftrag, das die Berechtigung der deutschen Forderungen prüfen sollte. Ministerin Wiezcorek-Zeul fand unsere Argumente plausibel und überlegte mit uns über eine alternativen Verwendung der laufenden Rückflüsse nach Deutschland. Bevor die wirksam werden konnte, kam es allerdings zum Machtwechsel in Berlin hin zu der gleichen politischen Konstellation, die 17 Jahre zuvor den Deal getätigt und naturgemäß keinerlei Interesse am Ausbuddeln ihrer Leichen im Keller hatte.

2008/9: Auditoria in Ecuador

2008 Auditoria in EcuadorDie ebenfalls frisch ins Amt gekommene Regierung Ecuadors fand die Idee einer Überprüfung ihrer Auslandsschulden hinsichtlich deren Legitimität interessant und berief erlassjahr.de zusammen mit anderen in eine entsprechende Überprüfungskommission. Eine spannende Wühlarbeit durch eine jahrzehntelange Überschuldungsgeschichte des kleinen südamerikanischen Landes erwuchs daraus. Leider eine, bei der der Auftraggeber schon von vornherein wusste, welches Ergebnis er gerne haben wollte. Der internationalen Diskussion um die Illegitimität von Schulden hat das spektakuläre Projekt in Ecuador daher nicht gerade gut getan. Die Regierung von Präsident Correa dagegen schuf sich durch ein geschickt eingefädeltes Angebot an ihre „illegitimen“ Gläubiger den fiskalischen Spielraum für bemerkenswerte Sozialprogramme. Immerhin.

2010: „Defuse the Debt Crisis“: Nicht in Cannes

Präsident Sarkozy als Gastgeber des G20-Gipfels 2011 in Cannes blieb von unserer Warnung vor den sich neu aufbauenden Schuldenkrise im Globalen Süden ebenso unbeeindruckt wie von der voll aufbrechenden Staatsüberschuldung in der Eurozone. „Aussitzen“ war das Motto der G20.

August 2012: „Geschichten der Schuldenkrise“ geht auf Tour

2012 Ausstellung RecklinghausenWie kann so ein trockenes Thema wie die Verschuldung von Staaten im Globalen Süden auch für Menschen interessant werden, die selbst gar nicht betroffen sind? Indem man Geschichten erzählt! Das tut seit dem Auftakt unweit des Frankfurter Bankenviertels 2012 unsere Wanderausstellung „Geschichten der Schuldenkrise“. In rund 40 Orten quer durch die Republik hat sie seither gastiert und ist dank regelmäßiger Aktualisierungen auch heute noch bestens geeignet, vor Ort auf das Thema aufmerksam zu machen.

Mai 2015: G20-Finanzministertreffen in Dresden

Wo sonst Dunkeldeutschland seine montäglichen Runden dreht, lassen erlassjahr.de-Unterstütz*innen aus Sachsen, der ganzen Bundesrepublik und Gäste aus der ganzen Welt, den Bundesfinanzminister wissen, dass es höchste Zeit für die Lösung der Schuldenkrise ist. Der schickt seinen Abteilungsleiter zu unserem Kongress und rollt dann selbst als Überraschungsgast in unseren ökumenischen Gottesdienst.

 

2016: Debt20: Entwicklung braucht Entschuldung – jetzt!

2016 Debt20 Logo2016 stand der G20-Gipfel 2017 in Deutschland im Zentrum unserer Aktionen. Seit April sammelten wir Logos zur Unterstützung der Stimmen der Debt20 und der zentralen Forderung an die G20, die Schaffung eines umfassenden, rechtsstaatlichen und internationalen Entschuldungsverfahren auf den Weg zu bringen. Der wichtige erste Schritt: Die Bundesregierung sollte das Thema auf die Agenda des Gipfels 2017 setzen.

März 2017: G20 in Deutschland: „We can’t breathe“

Aktion_Schuldenschnitt_2 KopieWährend sich die G20-Finanzminister*innen unter der deutschen Präsidentschaft ausgerechnet im Kasino von Baden-Baden versammeln, demonstrieren wir davor, wie die Schulden den betroffenen Ländern die Luft abschnüren. Allen Finanzminister*innen schicken wir eine Schere mit der Aufforderung, herauszukommen und die verschuldeten Länder symbolisch loszuschneiden. Weil niemand kommt, machen wir es selbst und feiern mit den Freund*innen der ACK Baden-Baden, den Bischöfen der badischen Landeskirche und der Diözese Freiburg und vielen Engagierten ein buntes Fest.

September/Oktober 2017: “Entschuldet die Opfer des Klimawandels!”

Die karibischen Inseln Dominica und Barbuda werden im Herbst von zwei Wirbelstürmen verwüstet. IWF, Weltbank und Pariser Club interessiert das überhaupt nicht. Der IWF kassiert sogar noch in der gleichen Nacht, in der Barbuda dem Erdboden gleichgemacht wird, eine fällige Rate. Wir unterstützen die Gründung des Jubilee Caribbean Netzwerks und finden immer mehr Anknüpfungspunkte zur Kooperation mit der wachsenden weltweiten Bewegung für Klimagerechtigkeit.

Dezember 2019: China auf dem Radar

Malina ChinaOhne viel Trara ist China zum mit Abstand bedeutendsten Gläubiger für die Länder des globalen Südens geworden – allerdings einer mit nicht immer feinen Manieren. Pariser Club und IWF verlangen, dass die Chinesen sich an die ebenfalls nicht gerade fairen westlichen Spielregeln halten. Denken die aber gar nicht dran. Wir diskutieren mit dem Bundesfinanzministerium und Expert*innen der weltweiten China-Forschung, wie bei dieser Konstellation Entschuldung im Interesse der Schuldner aussehen könnte.

2020: Corona bringt Entschuldung zurück auf die Tagesordnung

Infolge der Corona-Pandemie bricht in fast allen Ländern der Erde das Wirtschaftswachstum dramatisch ein. Die Schuldendienstfähigkeit vieler Länder von Argentinien bis Sambia steht auf der Kippe. Auch IWF-Chefin Georgieva und die Spitze des deutschen Finanzministeriums erkennen, dass die Verweigerung von Schuldenerleichterungen ein sicherer Weg in die globale Katastrophe ist. Erstmals seit HIPC erhalten wieder ganze Gruppen von Ländern (bescheidene) Schuldenerleichterungen. Wir wollen mehr.

Dezember 2021: Das Staateninsolvenzverfahren steht im Koalitionsvertrag

…und genau dafür hatte sich unser Bündnis im Wahljahr mit Buttons, Plakaten und politischen Gesprächen eingesetzt! Ein großer Erfolg für uns alle. Zum dritten Mal nach 2002 und 2009 steht das Bekenntnis zur Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens nun offiziell auf der Agenda unserer Regierung. Ob diesmal was draus wird? Vielleicht! Zumindest hatten alle drei Regierungsparteien das Stichwort schon in ihren Wahlprogrammen stehen. Wir werden die Ampel auf jeden Fall konsequent an ihr Versprechen erinnern!

2022: Wir fordern von der G7: Globale Gerechtigkeit #stattSchuldendienst!

Schon in den ersten Monaten der Legislaturperiode hat die neue Bundesregierung die Chance, im Rahmen ihres G7-Vorsitzes echte Akzente in der internationalen Schuldenpolitik zu setzen. Doch die Ergebnisse der Gipfeltreffen sind: enttäuschend. Umso beeindruckender: unser mehr als vier Meter hoher Schuldenberg, den wir anlässlich des Treffens der G7-Finanzminister*innen vor dem Alten Rathaus in Bonn aufbauen. Das findet wohl auch Bundesfinanzminister Christian Lindner, den wir am Fuße des Schuldenbergs abfangen und mit unseren Forderungen konfrontieren.

Eine besondere Ehrung erfährt unsere Bildungsarbeit: Der Katholische Fonds und Brot für die Welt zeichnen erlassjahr.de in der Kategorie „Digitalisierung im Globalen Lernen“ mit dem Ökumenischen Förderpreis aus. Wir freuen uns sehr!