Wie Politiker zu Zombies werden

“Das schwache Auftreten der griechischen Regierung ändert nichts an dem Skandal, der darin besteht, dass sich die Politiker in Brüssel und Berlin weigern, ihren Kollegen aus Athen als Politiker zu begegnen. Sie sehen zwar wie Politiker aus, lassen sich aber nur in ihrer ökonomischen Rolle als Gläubiger sprechen. Diese Verwandlung in Zombies hat den Sinn, der verschleppten Insolvenz eines Staates den Anschein eines unpolitischen, vor Gerichten einklagbaren privatrechtlichen Vorgangs zu geben.”

Dieser Satz bringt einen langen Artikel von Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung vom Mittwoch auf den Punkt: Der Philosoph beklagt aus kluger Einsicht, dass Politik von Merkel und Co nicht mehr gemacht wird, weil diese bedeuten müsste, die Zukunft der Europäischen Union zu verteidigen. Alles was die Bundesregierung und in ihrem Windschatten die anderen Europäer verteidigen, sind aber ihre jeweils individuellen Gläubigerinteressen. Politiker bräuchte man dafür eigentlich nicht. Ein ausreichend rücksichtsloses Inkasso-Unternehmen täte es auch.

Nur aus der Inkasso-Perspektive ist das Augen Verschließen vor der Unausweichlichkeit eines nächsten Schuldenschnitts erklärlich. Würde jemand Politik im europäischen – oder auch nur im aufgeklärten nationalen – Interesse machen würde er jede Gelegenheit nutzen, das Unausweichliche so schnell, schmerzlos und erfolgreich wie möglich zu organisieren. Der ganze, sehr lesenswerte Kommentar findet sich hier.

Griechenland im Januar 2015: Hoffnung wieder erlaubt

Der historische Wahlsieg der Anti-Austeritäts-Parteien unter Führung des Linksbündnisses Syriza sorgt zu Recht für Euphorie. Ohne einen grundlegenden Politikwechsel wäre Griechenland weiter in der Rezessionsfalle geblieben, die darin besteht, dass die Wirtschaft schrumpft, während die Schulden gleich bleiben oder leicht ansteigen. Das war die Griechische Realität seit den Wahlen 2012.

Der Politikwechsel ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine wirtschaftliche Erholung. Ein nächstes unerlässliches Element dafür ist ein weiter gehender Schuldenschnitt. Bei einem Schuldenstand von 173% des BIP und gesamten Auslandsschulden (öffentlichen und privaten) von mehr als 200% des BIP sollte man über das “ob” eigentlich nicht mehr diskutieren müssen. Fachleute aller Lager tun das auch nicht.

Politiker schon. Das heisst: Es gibt diejenigen, die einen Schnitt kategorisch ausschließen, wie diverse CSU-Frontleute. Mit irgendwelchen Indikatoren oder sonstigen Fakten halten die sich dabei nicht auf, sondern verweisen darauf, dass man 2012 den Griechen ja schon mal entgegengekommen sei. Als ob das ein Argument wäre. Andere, darunter der Bundesfinanzminister und Kommissionspräsident Juncker deuten angesichts der Faktenlage schon mal die Möglichkeit weiterer begrenzter Zinsvergünstigungen an. Das ist bereits der Einstieg in die Verhandlungen, von denen die Genannten natürlich wissen, dass Alexis Tsipras sie betreiben muss und wird.

Erinnern können – und werden sich vielleicht – beide Seiten dabei an die Lagebeurteilung des IWF im Januar 2013, d.h. nach dem mit den Privatgläubigern vereinbarten Schuldenschnitt von 109 Mrd. €. Der IWF legte in dem Dokument dar, wie fragil die Situation nach wie vor war und wie hoch die Wahrscheinlichkeit, dass ein tragfähiges Schuldenniveau nicht erreicht würde. Wenig später gab es dann auch weitere kleine Erleichterungen der Europäischen Geldgeber. Aber auch das trieb damals dem IWF sein mulmiges Gefühl nicht aus. Schließlich hatte er sich im Rahmen der Troika mit dem größten Rettungsprogramm seiner Geschichte selbst in Griechenland exponiert. Immer und immer wieder taucht deshalb in dem IWF-Bericht – neben offenherzigen Bemerkungen über die bescheidene Rolle der EU-Vertreter in der Troika – auch die Erinnerung an die offenbar hinter verschlossenen Türen gegebene Zusicherung der Europäer auf, weitere Erleichterungen zu gewähren, wenn Griechenland das vorgesehene Niveau von 120% des BIP im Jahr 2020 verfehlt.

Dass es ohne weitere Erleichterungen verfehlt werden wird, steht außer Frage. Und es ist zu hoffen, dass der Globale Akteur, der mit Ressourcen aller Staaten der Welt hantiert, sich nicht noch einmal zähneknirschend und entgegen besserem Wissen zur Finanzierung aussichtsloser Rettungsoperationen im Interesse der Europäer heranziehen lässt. Dass der Rest der Welt sich das nicht noch einmal bieten lassen möchte, hat er  – in Person der G77 – unter anderem dadurch deutlich gemacht, dass er die Diskussion um künftige Entschuldungsverfahren vom IWF auf die UNO verlagert hat (siehe Beiträge in diesem Blog).

Wir haben seinerzeit den sehr informativen IWF-Bericht damals in einem Fachinfo auf deutsch zusammengefasst und kommentiert.

Wie kann es nun für Griechenland weiter gehen?

Nicht aufhalten sollte man sich mit den albernen “Grexit”-Diskussionen über einen möglichen Austritt aus dem Euro. Syriza will es nicht. Die Europäer wollen es nicht. Eine Lösung wäre es nicht. Also genau das richtige Thema für die AfD – aber sonst auch niemand.

Syriza hat im Wahlkampf des öfteren an die Entlastung Deutschlands im Londoner Schuldenabkommen von 1953 erinnert. Das kam einerseits im Wahlkampf gut an – setzte es doch die ungeliebten deutschen Sparkommissare moralisch ins Unrecht. Zum anderen enthält das Abkommen aber eine Reihe von Bestimmungen über die unmittelbare Schuldenerleichterungen hinaus, die für Griechenland heute wegweisend sein könnten, um einen Weg aus der Krise zu finden. Prominent darunter die Begrenzung des Schuldendienstes auf den Handelsbilanzüberschuss und die Schaffung von Schiedsverfahren für künftige Streitfälle. Ich habe das in einem eigenen Beitrag für W&E und im einen ej-Fachinfo etwas ausführlicher beschrieben. Eine in diesem Sinne “deutsche” Lösung für Griechenland? Das wäre ein großer Fortschritt für alle!

Eurokrise: Die Deutsche Industrie will klauen gehen

Vor Ausbruch der Eurokrise hat die deutsche Industrie mit Griechenland glänzende Geschäfte gemacht. Nützliches und viel Unnützes wurde von den Hellenen bereitwillig und auf Pump aus Deutschland importiert. Der hiesige Boom der letzten Jahre hat eine Menge mit der Importneigung in Südeuropa zu tun und dem Glauben, dass Staaten immer zahlungsfähig sein werden.

Mit der faktischen Staatspleite Griechenlands mussten die deutschen Exporteure plötzlich um die Begleichung ihrer Rechnungen fürchten. Der IWF und seine Gefährten in der Troika taten alles, um per Austerität und frischem öffentlichem Geld so viele Altschulden wie möglich bezahlen zu lassen. Gereicht hat das der deutschen Industrie nicht – zumal die Privatisierungserlöse, die der IWF in seine Vorhersagen eingestellt hatte, viel zu optimistisch waren.

Da denken deutsche Konzernlenker schon mal gerne über Alternativen nach. In diesem Fall der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Markus Kerber. Er hat ein Auge auf das in Griechenland trotz Austerität und Privatisierung nach wie vor existierende öffentliche Vermögen “in dreistelliger Milliardenhöhe” geworfen. Nun fordert er, dass dieses pauschal und in toto der Verfügung des Griechischen Staates entzogen und dem ESM unterstellt werden soll. Dieser könne dann die Veräußerung dieses Vermögens an private Investoren so vorantreiben, wie es der griechische Staat ganz offensichtlich nicht hinbekomme.

Mit seinem Vorschlag will Kerber ein Dilemma umgehen, welches die Gläubiger von Staaten auf der ganzen Welt umtreibt: Selbst mit gültigen Verträgen und ebenso gültigen Gerichtsurteilen für eine eventuelle Zwangsvollstreckung in der Hand können sie nicht auf das Vermögen des Schuldnerstaates zugreifen. Griechische Gerichte werden nicht in das inländische Vermögen des eigenen Staates hinein vollstrecken, und ausländisches Vermögen besteht in der Regel nur aus diplomatischen Liegenschaften und unterliegt damit der vom Völkerrecht geschützten “souveränen Sphäre” eines Staates. Wie praktisch wäre es da, wenn Land, Infrastruktureinrichtungen, öffentliche Unternehmen oder gar Kulturgüter plötzlich gar nicht mehr dem griechischen Staat gehören, sondern einem – wie Kerber formuliert – europäischen Schatzamt, zu dem der ESM sich weiter entwickeln solle.

Neu sind solche Gedanken wahrlich nicht. Anfang des letzten Jahrhunderts blockierten europäische Kriegsschiffe Venezuelas Häfen, um über die Zolleinnahmen des Landes Schulden des Landes bei europäischen Banken und Unternehmen einzutreiben. Und als 40 Jahre später die deutsche Industrie ein Auge auf industrielle Anlagen in Griechenland und anderen Ländern geworfen hatte, machte sie sich nicht die Mühe irgendwelcher juristischer Konstruktionen. Sie schickte die Panzer der Wehrmacht und die Arisierungskommandos der SS. Dagegen wirkt Herrn Kerber’s Bemühungen um eine Umgehung des Völkerrechts fast schon zivilisiert.

Der dümmste Finanzminister der Welt…

…ist in diesem Monat zweifellos der Zypriote Lassos Shiarly. Von der Nachrichtenagentur MNI wird er am 12. Februar im Zusammenhang mit einer möglichen Umschuldung Zyperns mit den Worten zitiert: “Öffentliche Schulden dürfen nicht gestrichen werden. Staaten müssen einen Weg finden, ihren Verpflichtungen nachzukommen.”

Warum wurde der Minister zu diesem Thema überhaupt interviewt? Ach ja: es bestehen im Ausland erheblich Zweifel an der Zahlungsfähigkeit seiner Regierung.

Warum genau bestehen solche Zweifel? Weil zypriotische Banken in Schwierigkeiten sind und dringend öffentliches Geld brauchen.

Warum sind eigentlich zypriotische Banken ziemlich plötzlich in Schwierigkeiten geraten? Stimmt: Sie hatten sich mit griechischen Staatsanleihen eingedeckt, die nach dem Schuldenschnitt im letzten März nur noch ein Drittel ihres ursprünglichen Wertes aufwiesen.

Warum hatten die griechischen Staatsanleihen plötzlich an Wert verloren? Na, weil der griechische Staat pleite war, und zumindest ein Teil seiner Schulden nicht nur gestrichen werden musste, sondern auch gestrichen wurde.

Könnte das dem Herrn Shiarly bitte mal jemand mitteilen!

Schuldentragfähigkeit in einem kleinen Land. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott des IWF nicht zu sorgen.

Im vergangenen Jahr hatte eine Schuldentragfähigkeitsanalyse des IWF einen vollkommen unzureichenden Schuldenerlass für Griechenland als ausreichend legitimiert. In diesen Tagen erleben wir, wie sich alle Annahmen des Fonds und seiner Troika-Kollegen in Luft auflösen, und Griechenland nach dem “Schuldenerlass” wieder zum heißen Kandidaten für eine Staatspleite wird.

Es fällt schwer, zu schrieben, dass die Griechen eigentlich noch gut davon gekommen sind. Aber so ist es. Wie der IWF mit ärmeren und weniger spektakulären Schuldenern umgeht zeigt die jüngste Tragfähigkeitsanalyse für das kleine westafrikanische Gambia:

Das Land war 2007 unter der HIPC/MDRI-Initiative entschuldet worden, hatte aber die danach im Rahmen des Debt Sustainability Framework vom IWF definierte Tragfähigkeitsgrenze von 100% Barwert der Gesamtverschuldung im Verhältnis zu den jährlichen Exporteinnahmen niemals erreicht. Bis 2012 kletterte die Verschuldung wiederum auf 199%, um danach kontinuierlich abzunehmen. Die Indikatoren nehmen immer ab in den Vorhersagen des IWF, weil in dessen Modellrechnungen Länder sich an die unfehlbar segensreichen Vorgaben des Fonds minutiös halten werden, und überhaupt alles besser wird.

In der Wirklichkeit ist bislang noch niemals alles besser geworden, und der Fonds würde große Schwierigkeiten haben, ein einziges Land zu finden, für dessen Schuldenstand heute die Vorhersagen von – sagen wir mal – 2007 der Realität entsprechen.

Immerhin räumen die Rechenkünstler aus Washington ein, dass nach dem Baseline-Szenario Gambia’s Auslandsschulden bis zum Ende des doch recht langen Vorhersage-Zeitraums im Jahr 2031 nicht auf das tragfähige Niveau von 100% fallen werden.

Allerdings – und da wird es dann wirklich lustig – weist eine kleine Fussnote auf S.5 des Dokuments darauf hin, dass nach 2031 ein wirklich tragfähiges Niveau erreicht sein wird.

Also, liebe Gambier: Haltet einfach noch schlappe 19 Jahre durch, lasst Euch nicht dadurch entmutigen, dass der eine fehlende Streichung dieser untragbaren Schulden nach einer vom IWF veröffentlichten Studie Euch noch knapp zwei verlorene Entwicklungsjahrzehnte mit schwachem Wachstum infolge eines übermäßigen Schuldendienstes einbringen wird. Am Ende wird die Sonne über Euch aufgehen.

Sofern Ihr dann noch lebt.

"Eine Lösung, die keine ist"

Unter diesem Titel ist in der FTD vom 2.7. ein sehr lesenswerter Leitartikel von Oliver Holtemöller und Tobias Knedlik vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle-Wittenberg erschienen. Die Autoren beschreiben sehr eindrücklich, wie die “Trippelschritte” des (deutschen) Managements der Eurokrise nicht zu deren Lösung, sondern zu ihrer Verteuerung beitragen. Dass die Organisierung einer geregelten Staateninsolvenz in der Eurozone von der Politik versäumt wurde, bezeichnen sie als den “ersten und wichtigsten Fehler der Krisenpolitik”.

Die Argumentation der Hallenser Wirtschaftswissenschaftler deckt sich mit dem Ergebnis der Modellrechnung von erlassjahr.de. Darin hatten wir gezeigt, dass der gleiche Schuldenschnitt, der Ende 2011 für Griechenland gewährt wurde, 18 Monate früher das Potenzial gehabt hätte, Griechenlands Verschuldung im Verhältnis zum BIP in die Größenordnung von 80% zu bringen – also etwa dahin, wo Deutschland heute steht.

Die Entscheidung, die Krise zu finanzieren statt sie zu lösen, hat alle Beteiligten in eine schlechtere Lage gebracht – mit Ausnahme derjenigen Privatinvestoren, die es seither geschafft haben, sich aus Griechenland zurückzuziehen.

Griechenland nach den Wahlen: Die Populisten haben gewonnen

Nach dem knappen, aber durch das Wahlrecht etwas “ausgebauten” Sieg der Konservativen bei der Parlamentswahl in Griechenland, ging ein Aufatmen durch die deutschen und die internationalen Medien. Eine Pro-Euro-Koalition habe gegen die “Populisten” von Syriza gewonnen, Griechenland bleibe auf (Spar-)Kurs, heisst es. Und da wird es schon sehr unappetitlich.

Denn deutsche Medien – bis hin zur ansonsten seriösen Financial Times Deutschland – hatten Syriza als eine Partei dargestellt, die das hochverschuldete Land aus dem Euro herausführen würde. Das war in jeder Beziehung Unsinn. Ökonomisch gäbe es für Griechenland durch einen Austritt viel zu verlieren (nicht zuletzt gewaltige Kosten einer Währungsumstellung selbst), aber wenig zu gewinnen. Politisch könnte niemand auf der Grundlage der existierenden Verträge dem Land den Euro “wegnehmen” wie einem unbotsamen Kind das Spielzeug. Genau dies wurde von den Medien aber anhaltend nahegelegt. Und schließlich hatte Syriza, zuletzt mit einem Kommentar ihres Chefs Alexis Tsipras in der FTD selbst, deutlich gemacht, dass man keinesfalls die Absicht habe, den Euro aufzugeben. Was, um alles in der Welt hätte der Mann denn noch tun müssen, damit ihm geglaubt wird??

Die Griechen waren haarscharf davor, einen keineswegs einfachen, aber verheißungsvollen Neustart zu schaffen. Syriza hatte die Forderung nach einer Schuldenkonferenz erhoben, bei der die Tragfähigkeit der Auslandsschulden überprüft werden und gegebenenfalls eine ausreichende Restrukturierung auf den Weg gebracht werden sollte. Nach gut zwei Jahren Insolvenzverschleppung und einem Schuldenschnitt von dem jeder weiss, dass er nicht ausreichen wird, wäre das endlich eine Alternative zum Weiterwursteln zwischen den Alten Eliten von ND, PASOK und Co. und ihren freundlichen Gläubigern in Berlin und Brüssel.

Selbst der IWF geht davon aus, dass im besten aller Fälle Griechenlands Schulden mit den bisherigen Massnahmen auf 120% – wahrscheinlicher: 129% – des BIP bis 2020 reduziert werden können. Wichtige Privatgläubiger halten heute einen zweiten Schuldenschnitt für unvermeidlich, bei dem nicht nur die ursprünglichen privaten Forderungen, sondern auch die aus den öffentlichen Rettungspaketen zur Disposition stehen müssen. In der Tradition ihrer Politik seit dem Krisenausbruch 2009 haben die Altparteien in Griechenland, die Bundesregierung, die EU und die Mainline-Medien so getan, als gäbe es diese Bedrohung gar nicht, und der wählenden Bevölkerung vorgegaukelt, wenn sie die Finger nur von den erschröcklichen Linksradikalen ließen, würde schon alles gut werden.

Das nennt man Populismus. Es ist unverantwortlich. Und damit sind sie (vorerst) durchgekommen.

Ach Schäuble….

Auf einem Podium Katholikentag in Mannheim erklärte der Bundesfinanzminister, “ein Erlassjahr sei kein Mittel gegen die Schuldenkrise”. Der grüne Finanzpolitiker Gerhard Schick hatte den Gedanken eines Erlassjahres in die Diskussion gebracht.

Nun ist es nicht überraschend, dass ein Finanzminister sich mit dem Gedanken eines Schuldenerlasses schwer tut. Überraschend ist die von Schäuble nachgeschobene Begründung: “Ein Erlassjahr bedeute Geldentwertung und Währungsreform”. Ob das Volk Israel ein Erlassjahr, wie das Alte Testament es beschreibt, je praktiziert hat, ist unter Theologen und Historikern umstritten. Falls es das gab, war es auf keinen Fall mit Geldentwertung und Währungsreform verbunden.

Das gleiche gilt für das, was erlassjahr.de als dem Spätkapitalismus gemäße Form eines Erlassjahr’s vorschlägt: nämlich ein geregeltes Staateninsolvenzverfahren. Das steht – nebenbei bemerkt – als politische Forderung auch im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Bundesregierung, dem Herr Schäuble sich eigentlich verpflichtet fühlen müsste.

Rational ist die Reaktion des Ministers auf Gerhard Schick’s Anregung mithin nicht zu verstehen. Was vielmehr daraus zu sprechen scheint, ist die offenbar unausrottbare Annahme, Staaten könnten, sollten, dürften nicht pleite gehen. Auf ungefähr halber Strecke zwischen einem verspäteten und für Griechenland unzureichenden Schuldenerlass und der ungeregelten Staatspleite des Landes nach den Wahlen im nächsten Juni, weist der deutsche Finanzminister das zurück, was eine zeitige und wirksame Bekämpfung der Krise in der Eurozone ermöglicht hätte: Im Frühjahr 2010, als Griechenland sich im Prinzip für zahlungsunfähig erklärte, hätte ein geregeltes Verfahren für einen schnellen, geordneten und ausreichend tiefen Schuldenschnitt zumindest die Chance geboten, die Krise in einem frühen Stadium zu beenden. Nach einer Berechnung von erlassjahr.de wäre Griechenland durch den gleichen Schuldenerlass der Privatgläubiger in Höhe von 109 Mrd. €, wie er im Februar 2012 beschlossen wurde, größenordnungsmäßig bei einem Schuldenstand von 82% angekommen. Immer noch keine unproblematische Größenordnung, aber mit der um zwei Jahre verschleppten Regelung erreicht Griechenland nach Berechnung des IWF im besten Falle 129% – und zwar im Jahr 2020.

Es ist tragisch, dass einer der wichtigsten Akteure in der Eurokrise die Chance verspielt, in die nächste Krise nicht ebenso unvorbereitet zu stolpern wie in die noch andauernde.

Dauerhafte Lösungen, statt nur Löcher zu stopfen

Gestern (25.10.2011) hat sich Kanzlerin Merkel vom Bundestags das Mandat eingeholt, die Europäische Stabilisierungsfazilität (vulgo Rettungsschirm) wie einen Credit Default Swap (Kreditausfall- Gegenfinanzierung) zu benutzen, der als Versicherung eintritt, wenn die Staatsschulden, die z. B. Portugal macht, nicht bezahlt werden können (zur Erinnerung: Diese Sorte strukturierter Finanzprodukte hat die 2008er Finanzkrise mit ausgelöst). Die weltweiten Erfahrungen mit Schulden- und Entschuldungspolitik von erlassjahr.de zeigen, dass die Politik dazu neigt, Löcher zu stopfen, statt dauerhafte Lösungen zu entwickeln. Genau so eine Flickschusterei ist diese Versicherungslösung. Sollte sie eines Tages den Steuerzahlern vor die Füße fallen, werden tatsächlich Billionen Euro erforderlich werden, um eine Rezession abzuwenden.

Panikmache, sagen da die Abgeordneten und die Kanzlerin: Die Versicherung deckt nur die ersten 20 verlorenen Prozent ab, den Rest müssen die Investoren, die die Staatschulden gekauft haben, dann schon selber schultern. Dem steht die Erfahrung aus der Finanzkrise gegenüber, wonach die Schulden der Banken und des Privatsektors letztendlich vom Steuerzahler übernommen werden und zwar umso zwingender, je höher sie angewachsen sind. Das Problem der für das Finanzsystem als Ganzes kritischen Finanzinstitutionen hat mit der Finanzkrise eher zu- als abgenommen.

Die Europäische Stabilisierungsfazilität als Credit Default Swap einzusetzen, damit Deutschland im schlimmsten Falle nicht für mehr als maximal  210 Mrd. Euro einstehen muss ist eine unverantwortliche populistische Politik die versucht, die geldpolitische Logik des gemeinsamen Währungsraums vor der Bevölkerung zu verbergen. Stattdessen versucht diese Politik, den Steuerzahlern den finanzpolitischen Hochseilakt der Versicherungslösung als Spaziergang durch den deutschen Wald anzudienen.

Die USA, Großbritannien und Japan haben allesamt wesentlich mehr Schulden als Italien, Spanien oder Portugal. Dennoch werden sie längst nicht so von den Finanzmärkten abgestraft wie die europäischen Staaten. Der Grund dafür liegt nicht in der höheren Produktivität ihrer Wirtschaften oder gar einer angelsächsischen Verschwörung, sondern darin, dass diese Länder eine zentrale Finanzpolitik und vor allem Zentralbanken haben, die ihre Währungen verteidigen. In Deutschland besitzen viele Menschen bewegliches Vermögen oder eine private Zusatz- Altersversorgung. Inflationsvorbeugung ist daher ein hohes finanzpolitisches Gut. Die Hüter des Geldwertes in Deutschland, insbesondere die Bundsbank und die Privatbanken wollen aus Furcht vor Geldentwertung die Verteidigung des Euro durch die Europäische Zentralbank verhindern. Als Alternative haben sie sich mit der Kanzlerin und vielen Abgeordnete des Bundestages zusammengetan, um den Teufel der Staatschuldenkrise mit dem Belzebub der Versicherungslösung austreiben.

Das Gelingen dieser Strategie hängt einzig und allein vom signifikantem und anhaltendem Wirtschaftswachstum gerade auch in den ärmeren Ländern Europas ab, damit Schuldendienste geleistet werden können, ohne dass die Konjunktur fördernden und sozial ausgleichenden Funktionen der Staatshaushalte außer Kraft gesetzt werden. Abgesehen vom grundsätzlich überoptimistischen Internationalen Währungsfonds versichert uns gegenwärtig aber kein seriöses Wirtschaftsforschungsinstitut, dass Europa in den kommenden Jahren das erforderliche Wachstum auch erzielen wird- insbesondere dann nicht, wenn die global agierende Spekulation nicht restlos davon zu überzeugen ist, dass der Euro entschlossen und nicht mit halbseidenen Konstruktionen wie der Versicherungslösung verteidigt wird. Und wenn die Spekulation nicht zu überzeugen ist, wird sie weiter gegen Euroländer spekulieren, der Eintritt des Versicherungsfalles wird wahrscheinlicher und die Krise findet kein Ende.

Ein Kernstück des Fairen und Transparenten Schiedsverfahrens bei Staateninsolvenz – für die sich erlassjahr.de seit Jahren einsetzt – ist die Vereinbarung von Schuldnern und Gläubigern über die Höhe der Schulden, die zurückgezahlt werden können und den Schuldenschnitt, den die Gläubiger hinzunehmen haben. Weil aber die Finanzmärkte mit ihrer schwachen Eigenkapitalausstattung und ihren abgeleiteten und vielfach gehebelten Finanzprodukten auf die Realisierung von hohen Verlusten nur mit Bankrott reagieren können, ist die Flankierung der Gläubiger-/Schuldnervereinbarung durch EZB- gesicherter Eurobonds sowohl für Gläubigerschulden, als auch für den wirtschaftlichen Neuanfang von Schuldnerländern erforderlich. Europa und die Welt brauchen endlich die Einführung eines Fairen und Transparenten Schiedsverfahrens bei Staateninsolvenz, eine starke Bankenregulierung mit einem strengen TÜV für Finanzprodukte und einer Finanztransaktionssteuer, einen Maulkorb für Rating-Agenturen in kritischen Situationen sowie eine handlungsfähige gemeinsame Wirtschaftsregierung. Dann kann auch der Euro überleben.

Ein Gastkommentar von Peter Lanzet.

“Das ganze Elend”

Am vergangenen Freitag, den 21.10.2011, leitete der IWF im Namen der gesamten Troika den europäischen Regierungen seine Schuldentragfähigkeitsanalyse zu Griechenland zu.

Die gute Nachricht ist, dass der IWF nicht einmal mehr versucht, den Eindruck zu erwecken, Griechenland käme ohne einen weit reichenden Schuldenerlass zurecht. Die schlechte Nachricht ist alles andere.

Der IWF entwickelt ein gegenüber seinen Vorhersagen in der ersten Jahreshälfte “revidiertes Basis-Szenario”. Dessen Eckpunkte sind:

  • eine um 5,5% schrumpfende Volkswirtschaft in 2011; weitere Schrumpfung um 3% in 2012, und anschließend ein sich nur langsam wieder aufbauenes Wirtschaftswachstum von 1,25% in 2013/4 auf bis zu 2,6% bis 2030;
  • Privatsierungserlöse von 46 Mrd. € bis 2030 statt des bisher angenommenen 66 Mrd.;
  • Das aktuelle fiskalische Defizit vor Schuldendienst (“Primärdefizit”) von 5% soll sich gleichwohl schon 2013 in einen Überschuss von 1,4% des BIP verwandeln.
  • Frühestens 2021 kann unter diesen Umständen wieder eine Finanzierung über den Kapitalmarkt erfolgen – vorausgesetzt, dass der im Juli vereinbarte Schuldenschnitt von 21% bei den Privatgläubigern umgesetzt wird.

Unter den genannten Voraussetzungen, bei uneingeschränkter Umsetzung aller mit dem IWF vereinbarter Maßnahmen und bei Abwesenheit jeglicher externer Schocks, würde in diesem Szenario der Schuldenstand bis 2013 weiter auf 186% des Bruttoinlandsprodukts steigen, danach bis 2020 auf 152% und bis 2030 auf 130% fallen. Das heißt: Griechenland würde rund 20 Jahre lang keinerlei wirtschaftspolitischen Spielraum haben, die Bevölkerung würde allenfalls minimale wirtschaftliche Verbesserungen erleben – und das auch nur, wenn 20 Jahre die Weltwirtschaft störungsfrei wächst, es keine Erdbeben, Exportpreiseinbrüche und Ölpreisschocks gibt. Dass es so kommt, glaubt nicht einmal der IWF!

Also rechnet er alternative Szenarien durch. Was auch immer schief geht – niedrigerer Primärüberschuss, geringere Privatsierungserlöse, schwächeres Wachstum, höhere Kosten für die öffentlichen Hilfskredite infolge eines Zinsanstiegs in Deutschland – nichts von alledem könnte Griechenlands Wirtschaft mit der bislang zugesagten Unterstützung auffangen. Es wäre umgehend wieder zahlungsunfähig.

Konsequenz: der IWF verlangt “umfassende öffentliche Unterstützung zu großzügigen Bedingungen und zusätzlichen privaten Schuldenerlass”. Bis zu 444 Mrd. € zusätzlicher Unterstützung können unter den widrigsten Bedingungen notwendig sein. Nur, wenn der Privatsektor sich mit mindestens 60% Schuldenstreichung an dem Paket beteiligt, kann die öffentliche Unterstützung bei den vorgesehenen 109 Mrd. bleiben.

Und da wird aus der grottenschlechten Nachricht fast schon wieder eine gute: Das ganze elende Gequatsche der letzten 18 Monate, einen Schuldenschnitt dürfe es auf gar keinen Fall geben, weil sonst Griechenland sonst nie mehr einen Kredit bekäme und überhaupt die ganze Eurozone zusammenbräche, hat sich unter dem Druck der Fakten in Luft aufgelöst.

Das hätte man im Sommer 2010 deutlich billiger haben können!