Weltfinanzgipfel: Neue Abseitsregeln für das große Geld, aber die Schiedsrichter bleiben die alten

Die Staats-und Regierungschefs der G20 haben am 15.November in Washington die Ab­schluss­erklärung des Weltfinanzgipfels verabschiedet.[1] Sie besteht aus der eigentlichen, 16 Punkte umfassenden, Erklärung und einem “Aktionsplan”. Dieser wiederum unterteilt sich in sechs Kapitel: in kurzfristige, d.h. bis zum 30.4.09 zu ergreifende, und darüber hinaus­ge­hende, mittelfristige Maßnahmen.

Im Folgenden werden die beiden Teile hinsichtlich Auswirkungen auf künftige Finanzströme zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern im Süden analysiert. Das Dokument nimmt im Blick auf Letztere eine Untersteilung in Schwellen- und Entwicklungsländer (SL/EL) vor. Der Text folgt dieser Unterteilung.

1. Generelle Tendenz: Lange Überfällige technische Hausaufgaben bei der Beaufsichtigung der Märkte, aber keine politischen Fortschritte für die ärmeren Länder. 

In den im “Aktionsplan” angesprochen Handlungsfeldern

  • Transparenz und Rechenschaftspflicht
  • Regulierung
  • Beaufsichtigung
  • Risikomanagement
  • Förderung der Integrität von Finanzmarktakteuren
  • Stärkung der internationalen Zusammenarbeit

werden kurz- oder mittelfristig Reformen vereinbart, welche seit langem überfällig sind. In den vergangenen Jahren bot die boomende Weltwirtschaft keine Möglichkeit, Forderungen nach stärkerer Einflussnahme im Sinne der nun beschlossenen Maß­nahmen durchzusetzen. Noch vor einem Jahr wäre eine britische oder US-ameri­kani­sche Unterschrift unter einem Dokument wie diesem vollkommen undenkbar gewe­sen. In der Krise des neoliberalen Denkens kann nun der öffentliche Sektor (endlich) darangehen, seine Hausaufgaben in den genannten Bereichen zu machen.

Im Gegensatz dazu fällt der letzte und politisch wichtigste Bereich “Reform der Inter­na­tionalen Finanzinstitutionen” enttäuschend aus. Zwei Leitprinzipien kennzeichnen den Prozess an diesem Punkt:

  • Es werden keine neuen Institutionen – etwas aus dem alle Staaten umfassenden UNO-System heraus – geschaffen. Vielmehr werden die existierenden nach dem Prinzip “one dollar – one vote” funktionierenden Institutionen für weitere Akteure geöffnet.
  • Dabei geht es einerseits um die lange diskutierte Stimmrechtsreform im IWF, durch die wichtige Schwellenländer der G20 besser eingebunden werden sollen; zum anderen um ein erweitertes “Financial Stability Forum”, in dem bislang Finanz­minister und Zentralbanken aus dem G8-Ländern, einigen weiteren In­dustrie­ländern und wenigen Schwellenländern zusammenarbeiten[2].

Die Idee ist, dass das FSF weitere Regeln erarbeiten soll und dieser Prozess durch eine erweiterte Mitgliedschaft legitimiert werden soll. An dem exklusiven “By invitation only” Charakter der Institution soll sich natürlich nichts ändern. Der IWF wiederum soll die neu geschaffenen Regeln umsetzen. Auch seine Legitimität soll erhöht werden, indem die bereits lange diskutierte Stimmrechtsreform vor allem zu Gunsten der wichtigen Schwellenländer endlich umgesetzt wird. Zu mehr Effizienz im Handeln des IWF kann das durchaus führen. Mit mehr Demokratie hat es nichts zu tun.

2. Einige der technischen Reformprozesse können sich für Schwellen- und Ent­wick­lungsländer als nützlich erweisen.
Auch, wenn die offenbar auf starke Initi­a­tive der Deutschen beschlossenen erweiterten Kooperationen im Steuerbereich in er­ster Linie auf verbesserte Einnahmen in den Industrieländern zielen, kann eine stär­kere globale Kooperation im Steuerbereich auch für ärmere Länder zu einer Erhöh­ung der fiskalischen Spielräume führen, die dringend geboten ist.

In etwas geringerem Maße gilt das auch für die endlich in Angriff genommene Beauf­sichtigung der Rating Agenturen.

Schließlich zielen auch die Drohungen gegen “nicht-kooperierende Rechtsräume”(Pt. 9 der Erklärung) in erster Linie auf die Schweizen und Liechtensteins dieser Welt. Gleichwohl kann die Schaffung von Sanktionen gegen Staaten, deren Rechtswesen internationale Vereinbarungen nicht angemessen berücksichtigt, auch für die Ausein­an­dersetzung mit Geierfonds oder unter Umständen sogar mit illegitimen Schulden von Bedeutung sein.

3. Die schlechteste Nachricht aus Washington: Der IWF ist wieder im Geschäft.
Wer mehr Regulierung will, braucht dazu internationale Institutionen. Und auch, zu­nächst mal zu schauen, was schon da ist, bevor man neue Institutionen schafft, ist nicht falsch. Den IWF in seiner Rolle als Oberaufseher und Implementierungs­in­sti­tu­tion zu stärken, kommt allerdings der Rückkehr von Skandal-Schiedsrichter Hoyzer in die Bundesliga-Stadien gleich. Der Fonds hatte aus seiner fatalen Doppelrolle als Gläubiger einerseits und Gutachter/Aufsichtsgremium andererseits in der Ver­gang­en­heit von ihm abhängige  Volkswirtschaften in die Rezession bzw. den Staatsbankrott ge­trieben. Indonesien 1997, Argentinien 1999-2001 und viele unspektakuläre kleine Volkswirtschaften in Afrika sind bis heute von Rezepturen des Fonds traumatisiert. In den Boomjahren 2002-2007 haben sich zahlreiche Regierungen aus der Bevor­mundung des IWF gelöst und ihren Völkern lautstark geschworen, nie mehr nach der Pfeife dieses Schiedsrichters zu tanzen.

Mit den Rettungspaketen für Island, Ungarn, die Ukraine, Pakistan und seit heute für die Türkei ist der IWF zurück im Kreditgeschäft. Und auch die Modernisierungs­rhetorik von Herrn Strauss-Kahn – im Vergleich zu seinen Vorgängern Camdessus, Köhler und deRato tatsächlich ein aufgeklärter Geist – kann an dieser wider­sprüch­lichen Konstellation nichts ändern. Kein HIPC-Land (Heavily Indebted Poor Country), welches, ebenso wie die genannten Mitteleinkommensländer unter dem Einfluss der Finanzkrise in Schwierigkeiten gerät, gebe sich der Illusion hin, mit dem nächsten Rettungskredit werde nicht mehr von unten nach oben und von drinnen nach draußen umverteilt. 200 Mrd. US-$ sind die Größenordnung, in der global über neue IWF-Finanzierungen gesprochen wird. Wer in diesem Umfang öffentliche Mittel in be­droh­te Volkswirtschaften und öffentliche Haushalte pumpt, wird auch diesmal keine große Neigung zu langfristigen sozialen Investitionen zeigen, sondern an Stabilität und sich­eren Rückflüssen interessiert sein. Und eine von allen Kapitalgebern unabhängige Beratungsinstanz ist auch jetzt nicht vorgesehen.

4. Kein Platz mehr für romantische Vorstellungen von “eigenen Entwicklungs­wegen”.
Das Communiqué beschwört (Pkt.12) sicher nicht nur, um den Amerikanern nach den Regulierungskröten auch ein paar Streicheleinheiten zukommen zu lassen, das grundsätzliche Leitbild der offenen Volkswirtschaften, freiem Güter-, Dienst­leistungs- und Kapitalverkehr.

Dass eine Regierung wie die argentinische, die sich in besseren Zeiten als Anti-IWF-Lautsprecher einen Namen gemacht hat, im kommenden Jahr in Washington zu Kreuze kriechen wird, steht kaum in Frage. Mehr als 20 Mrd. US-$ Zahlungs­ver­pflichtungen aus alten und neuen öffentlichen Schuldverschreibungen werden mit Frau Kirchner’s Griff in die nationalen Rentenkassen allein nicht finanzierbar sein, wenn die eigenen Währung weiter gegenüber dem Dollar abwertet. Und wenn der venezolanische Hauptfinancier des “eigenständigen” argentinischen Weges durch den überraschend rasant fallenden Ölpreis selbst unter Druck gerät.

5. Die Schwellenländer, die jetzt zum Mitspielen eingeladen werden, sind nicht die Speerspitze einer sich emanzipierenden “Dritten Welt”.
Der brasilianische Präsi­dent Lula fand herzerwärmend klare Worte, als Bush und Sarkozy für Washington so etwas wie eine Katzentisch-Rolle à la Heiligendamm in Aussicht stellten. Mit dieser harten Haltung von Brasilianer, Chinesen und anderen kann der Schritt von den G8 zu den G20 kann als weitgehend vollzogen angesehen werden – auch, wenn  es im Juli auf Sardinien (womöglich bei Berlusconis zuhause) noch mal einen klassischen G8 geben wird.

Aber das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass nunmehr 20 statt 8 Staats­chefs in einem exklusiven Klub das Weltenlenken in die eigenen Hände nehmen. Wer sich etwa vorstellt, die neu hinzugekommenen Schwellenländer würden gegenüber den kleineren und ärmeren Volkswirtschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas grund­sätzlich anders auftreten als die alten Kolonialherren, wurde z.B. durch unap­petit­liche Details der chinesischen Investitionen in Afrika bitter enttäuscht. Der rabiate Zugriff auf die Bodenschätze des Kongo durch Knebelklauseln in chinesischen Kredit­verträgen ist ernüchternd für alle, die hofften, das Auftreten des neuen Akteurs be­deute für die ärmeren Staaten einen größeren politischen Handlungsspielraum. Die Arbeit von erlassjahr.de in der Auditoria-Kommission des ecuadorianischen Präsidenten zeigte, dass unter den bilateralen öffentlichen Gläubigern Ecuadors Spa­nien und Italien manche undurchsichtigen Manöver nutzten, um Kredite in dem Anden­land zum eigenen Vorteil an den Mann zu bringen. So rücksichtslos wie die brasilia­nische Baufirma mit dem schönen deutschen Namen Odebrecht S.A. – mit der ausdrücklichen Unterstützung der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES und des Präsidenten Lula – ging allerdings keiner der “alten” Gläubiger zu Werk.

6. Der Neoliberalismus ist nicht tot – nur vorläufig abgetaucht.
Die Bundeskanzlerin und der Finanzminister haben Recht, wenn sie dem in Washington begonnenen Prozess eine historische Bedeutung zuerkennen. Das Weltfinanzsystem muss nach der langen Nacht des Neoliberalismus dringend reformiert werden, und das wird es auch. Allerdings spricht einiges dafür, dass die Akteure des alten Systems den Tiefpunkt ihrer Hegemonie bereits durchschritten haben, und nunmehr dabei sind, zu retten was zu retten ist. Der Prozess, dessen nächster Schritt voraussichtlich ein nächstes Gipfeltreffen beim kommenden G20-Vorsitz Großbritannien sein wird, wird mindestens starke Rückzugsgefechte des neoliberalen Modells erleben. Passagen wie der genannte §12 werden noch auf mancherlei Weise dazu dienen, Elemente und Leitbilder des alten Modells zu rehabilitieren.

7. Chancen für die Schuldnerländer.
Die Entwicklungsländer und die globalen Ver­pflichtungen zur Entwicklungsfinanzierung tauchen im Kommuniqué nur en passant auf (Pkt. 14). Ein internationales Insolvenzverfahren wäre ein Schlüsselelement einer stabileren globalen Finanzarchitektur, da es Risiken auf Kapitalgeber verschiebt, und für diesen Prozess ein bewährtes und akzeptables Verfahren einbringt. Von den Ländern, die in der Folge der Finanzkrise an den Rand des Staatsbankrotts geraten, saß allerdings kein einziges in Washington mit am Tisch. Entsprechend gingen die dort Anwesenden davon aus, dass Staatsbankrotte durch IWF-Kredite abwendbar seien. Der IWF, der sich gerade in seine angestammte Rolle im Weltfinanzsystem zurückboxt, saß schließlich mit am Tisch – und wird es auch im Financial Stability Forum sein. So ist es ihm gelungen, die Weltöffentlichkeit ein weiteres mal an ein Instrumentarium glauben zu lassen, mit der er in Argentinien bitter Schiffbruch erlitten hat, und dessen Trümmerbeseitigung in den ärmsten Ländern die gleiche Welt­öffentlichkeit immerhin bis jetzt 117 Mrd. US-§ an öffentlichen Schuldenstreichungen in den HIPC-Ländern gekostet haben.

Die Wirklichkeit könnte indes folgendermaßen aussehen: Von den vierzehn ent­schul­deten Ländern, denen die Weltbank bereits wieder ein hohes bzw. mittleres Risiko neuer Überschuldung attestiert, werden im Gefolge des weltwirtschaftlichen Ab­schwungs die ersten zwei oder drei bereits im kommenden Jahr die gleiche Art von Rettungspaketen benötigen, die nun für Schwellenländer wie Ungarn, Ukraine oder die Türkei geschnürt werden. Der Kreditvergabe-Zyklus, der ab Mitte der achtziger Jahre dazu geführt hatte, dass ausbleibende bilaterale Finanzierungen in diesen Ländern durch multilaterale Gelder ersetzt wurden, beginnt von vorn. Sollte es dann entgegen der oben gemachten Vorhersage 2010 doch noch mal zu einem G8-Gipfel in Kanada kommen, könnten die Gläubigerländer dort sich darauf verständigen, den zahlungsunfähigen ärmsten Ländern zunächst z.B. 33% ihrer laufenden Zahlungs­verpflichtungen zu erlassen, wenn sie sich rigiden Anpassungsprogrammen des IWF unterwerfen. Und wenn der Gipfel dann noch in Toronto stattfindet, nennen wir diese Option einfach “Toronto Terms” – und sind zurück im Jahre 1989.[3]

Angesichts dieser Aussicht könnte es sogar für die Bundesregierung, von denen eine der sie tragenden Parteien sich seit 2002 mehrfach für ein Internationales Insolvenz­verfahren eingesetzt hat, attraktiv sein, eine umfassende Alternative zur nächsten Pariser Club/HIPC/MDRI-Schuldenerlass-Runde zu erarbeiten.

[1] http://www.bnonews.com/news/14.html

[2] http://www.fsforum.org/

[3] http://www.clubdeparis.org/sections/termes-de-traitement/termes-de-traitements/68-les-termes-de-toronto/switchLanguage/en