Putins Pracht für die G8 – Zivilgesellschaft abseits im abbruchreifen Petersburger Stadion

Demonstrationen und öffentliche Auftritte in der Stadt sind nicht zugelassen. Stattdessen bleibt man beim zivilgesellschaftlichen Protest unter sich im alten Kirov-Stadion, welches in der nächsten Woche abgerissen wird. Petersburger Bürger haben keinen Zutritt zum Stadion. “Das wollen sie auch nicht unbedingt. Man nennt die zivilgesellschaftlichen Gruppen hier Antiglobalista,” so Sabine Zimpel. Die Campaignerin von erlassjahr.de stellt fest, dass kein Unterschied gemacht wird, ob die Gruppen sich radikal links zeigen, zum linken Parteienspektrum gehören, ob sie sich als Anarchisten zu erkennen geben oder ob sie gewerkschaftlich orientiert sind. “Das russische Aidsforum wird genauso dazu gezählt wie die unsere deutsche Schuldenkampagne erlassjahr.de und die Ökumenische Akademie Prag”, so Zimpel weiter.

Als einzige an den Gipfel-Protesten in St. Petersburg teilnehmende deutsche Nichtregierungsorganisation findet erlassjahr.de es wichtig, die sich gerade erst formierende russische Zivilgesellschaft durch Teilnahme zu unterstützen. “Die Organisation der Gipfelproteste ist unter diesen Umständen sehr schwierig, und die Skepsis gegen die russischen Sicherheitskräfte ist verständlicherweise sehr gross”, so Dr. Jiri Silny, Leiter der Ökumenischen Akademie Prag, der sich deshalb umso mehr über die rege Teilnahme am öffentlichen Workshop zum Thema ‚Verschuldung in GUS- und Mittelosteuropäischen Ländern’ freut: “Die Menschen sind sehr interessiert an diesem für sie noch sehr neuen Thema. Bisher hat hier kaum jemand über die Staatsverschuldung gesprochen und nun kommen wir sogar mit konkreten Zahlen”, so Silny.

Nach dem 2005er Gipfel hatte Präsident Putin angekündigt, beim Gipfel 2006 in St.Petersburg über die Staatsverschuldung der Länder Osteuropas, Zentralasiens und des Kaukasus zu reden. Nun finden sich wichtige Themen wie Energie, Gesundheit und Bildung auf der Tagesordnung des Gipfels. Von Entschuldung, die erst Gelder in den Schuldnerländern für Investitionen in diese Themenfelder frei macht, jedoch keine Spur. Noch immer hat der Schuldendienst Vorrang vor sozialen Investitionen.

In einer Studie von erlassjahr.de stellt sich heraus, dass diese Region die relativ am höchsten verschuldete nach Lateinamerika ist und damit u.a. auch die afrikanischen Länder überholt hat. In acht von elf untersuchten GUS- Ländern haben wichtige Verschuldungsindikatoren kritische Marken erreicht oder sogar bereits überschritten.

Den dringenden Handlungsbedarf haben über 60 Organisationen aus 12 Ländern erkannt und tragen die Prager Deklaration Drop the debt of the transition (siehe www.ekumakad.cz) mit. Der Protest formierte sich im März 2006, bei einer ersten Vernetzungstagung von Entschuldungsaktivisten aus ehemaligen Ostblocklaendern in Prag und wird anlässlich des G8-Gipfels in St. Petersburg fortgesetzt. Sie rufen mit dieser Deklaration Gläubiger und Schuldnerregierungen der Region auf, die Belastung der Haushalte mit zunehmenden Schuldendiensten durch Schuldenerlasse zu reduzieren. Die Vereinten Nationen empfehlen Entwicklungsländern z. B. nicht mehr als 15% der Haushaltsmittel für Schuldendienste auszugeben. In Armenien, Georgien oder Kirgistan liegen diese Werte aber um die 40%.

Hintergrund:

Beim G8-Gipfel im schottischen Gleneagles wurde 2005 beschlossen, den Ländern, die den „Completion Point“ im Rahmen der HIPC-Entschuldungsinitiative erreicht haben, ihre Schulden beim Afrikanischen Entwicklungsfonds, bei der Weltbank-Tochter IDA und beim IWF vollständig zu erlassen.

In einem internen Papier der Weltbanktochter IDA vom März 2006 wird mittlerweile prognostiziert, dass viele hochverschuldete Entwicklungsländer zwischen 2010 und 2020 absehbar ihre voherigen Schuldenniveaus wieder erreichen werden.

erlassjahr.de und viele andere NRO kritisieren den 100%-Erlass als “Mogelpackung”. Angeprangert wird die zu geringe Anzahl an Teilnehmer-Staaten, die Verteilung des Erlasses auf die nächsten 40 Jahre, die Nichteinbeziehung weiterer wichtiger Gläubiger und der Umstand, dass die Schuldnerländer ihre erlassenen Schulden quasi selbst bezahlen müssen. Bei IDA und AfDF werden die Schuldenreduzierungen von bereits zugesagten Zahlungen wieder abgezogen.

Weitere Informationen:

Dr. Jiri Silny, St. Petersburg, 0042 – 07 37 75 74 412
Sabine Zimpel, St. Petersburg, 0049 – 177 78 44 154
Jürgen Kaiser, Düsseldorf, 0049 – 173 291 93 74

Erlassjahr.de ist ein breites gesellschaftliches Bündnis von über 900 Mitträgerorganisationen, die sich für die Entschuldung einsetzen.