13. Februar 2019

“Wir müssen uns entscheiden: Schulden zahlen oder Wiederaufbau”

Ein Interview mit Heron Belfon, Koordinatorin von Jubilee Caribbean

erlassjahr.de: Heron, kannst Du uns etwas über das Leben auf Grenada erzählen? Die meisten Menschen in Deutschland haben als allererstes Bilder von wunderschönen Stränden im Kopf, wenn sie an die Karibik denken.

Heron Belfon: Das Leben in Grenada ist sehr entspannt, aber unser Leben spielt sich nicht komplett am Strand ab, zumindest während der Woche. Am Wochenende treffen sich Familien und Freunde zum Grillen oder einfach nur zum Entspannen. Davon abgesehen ist das Leben hier aber genauso wie überall anders. Während der Woche arbeiten wir …

Was arbeiten die Menschen hier?

Derzeit ist unser größter Sektor der Tourismus, gefolgt von der Landwirtschaft. Es gibt viele Hotels und Gästehäuser. Außerdem kommen tausende Grenader, die im Ausland leben, zum Karneval und über Weihnachten zurück. Und zwischen Oktober und April liegt hier fast täglich mindestens ein Kreuzfahrtschiff. Der Rest von uns arbeitet zum Beispiel im Bereich Finanzen, in der Projektkoordination, bei Banken, der Polizei, in Ministerien oder in der Bildung.

Wir wissen, dass Grenada fast alle zehn Jahre von einer großen Naturkatastrophe heimgesucht wird. Statistisch gesehen müsstest Du bereits einige durchlebt haben.

Ich habe zwei Hurrikans erlebt: Hurrikan Ivan 2004 und Hurrikan Emily 2005. Ich war sehr jung und hatte gerade die Schule beendet. Ivan war besonders schrecklich. Wir wussten, dass er kommen würde. Aber wir Grenader sind sehr gläubig. Wir haben darauf vertraut, dass der Hurrikan aufgrund unseres Glaubens nicht kommen wird, aber er ist tatsächlich gekommen. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Der Schaden war doppelt so hoch wie unsere jährliche Wirtschaftsleistung.

Wie hast Du das persönlich erlebt?

Ich erinnere mich, dass ich während Ivan in unserem Haus war und sah, wie das Haus unserer Nachbarn zusammenbrach. Und hätte der Wirbelsturm nur fünfzehn Minuten länger gedauert, hätten wir unser Dach verloren, denn mit jedem Windstoß wurde unser Dach angehoben, es flog hoch und kam wieder herunter. Das war wirklich sehr beängstigend. Ich erinnere mich, dass wir nach Ivan einige Monate lang kein Wasser und keinen Strom mehr hatten.

Und es hat auch Deinen Lebensweg beeinflusst, oder?

In der Tat. Ivan wütete am 7. September und am 8. September sollte ich die Insel verlassen, um ein Regierungsstipendium am Brooklyn College in New York anzutreten. Doch der Flughafen war völlig zerstört. Ich konnte nicht abreisen. Als der Flughafen wieder in Betrieb genommen wurde, war es zu spät und ich verlor mein Stipendium. Ich bin also immer noch hier (lacht).

Zumindest wir sind froh, dass Du jetzt hier bist, um die Koordination des Entschuldungsnetzwerks in Angriff zu nehmen. Warum ist die hohe Verschuldung eine besonders schwere Herausforderung für Länder, die durch Naturkatastrophen gefährdet sind wie Grenada?

Wenn wir von einem Hurrikan heimgesucht werden, benötigen wir schnell Mittel für die Katastrophenhilfe und den Wiederaufbau. Also müssen wir uns entscheiden: Bezahlen wir unsere Schulden weiter oder stellen wir die Zahlungen ein, um unsere Insel wieder aufzubauen? Für beides reicht das Geld nicht. Die Inseln in der Karibik sind sehr klein und unsere Volkswirtschaften sind wenig diversifiziert. Sie hängen hauptsächlich vom Tourismus und der Landwirtschaft ab, was uns sehr anfällig für externe Schocks macht. Wenn wir unsere Insel nach einer Katastrophe nicht wieder aufbauen, können wir unsere Einnahmen nicht erhöhen, um die Schulden in der Zukunft zurückzuzahlen. Nahezu jede der karibischen Inseln steht vor ähnlichen Herausforderungen.

Was fordert Jubilee Caribbean?

Wir brauchen eine Möglichkeit, die Schuldenrückzahlung für einen bestimmten Zeitraum auszusetzen, höchstwahrscheinlich für ein Jahr. Dadurch hätten wir die Chance, die Versorgung mit dem Notwendigsten – Essen, Wasser, Strom, Unterkünfte – sicherzustellen, ohne das alles durch die Zahlung der Schulden zu gefährden. Als kleine Inseln tragen wir kaum etwas zum Klimawandel bei, aber aufgrund unserer geografischen Lage, der geringen Größe und der Anfälligkeit unserer Volkswirtschaften leiden wir am meisten unter den Folgen.

Wie können Menschen in Deutschland Eure Arbeit unterstützen?

Ich hoffe, dass sie unsere Forderung unterstützen und sie ihren Einfluss nutzen, um die Aufmerksamkeit der internationalen Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank sowie ihrer eigenen Regierung zu gewinnen. Senden Sie eine E-Mail an diese Organisationen und sagen Sie ihnen: „Dies ist, was in Grenada passiert. Dies ist, was in St. Lucia passiert. Sie brauchen eine Unterbrechung der Schuldenrückzahlung, damit sie das Zerstörte wieder aufbauen können.“

Du hast gerade erst als Koordinatorin bei Jubilee Caribbean angefangen. Was ist Deine Vision für das Netzwerk im Jahr 2019?

Der Plan ist, die Kirchen einzubinden. Was wir in der Karibik gemeinsam haben, ist unser starker Glaube. Durch die Kirchen können wir die Bewegung ans Laufen bringen. Der Plan für 2019 sieht vor, Entschuldungsgruppen auf den anderen englischsprachigen karibischen Inseln zu gründen.

 

Heron Belfon ist in Grenada geboren und aufgewachsen. Nachdem sie ihren Master in Business Administration an der University of Wales Trinity Saint David in Großbritannien gemacht hat, ist sie nun auf die Insel zurückgekehrt, um die Stelle als Koordinatorin des karibischen Entschuldungsnetzwerks Jubilee Caribbean anzutreten. Vor dieser Zeit arbeitete sie als Lehrerin.