16. Juli 2021

Im Gespräch mit der Politik: Bericht zur Online-Anhörung zur Schaffung eines Staateninsolvenzverfahrens

Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 wurde die Forderung nach einem Staateninsolvenzverfahren erstmals – in unterschiedlicher Schattierung – in den Wahlprogrammen fast aller großen Parteien aufgenommen. Um über diese Positionen und die Ideen der Parteien im Hinblick auf eine Lösung der globalen Schuldenkrise zu diskutieren, kamen am 12.07.2021 Fachpolitiker*innen von Union, SPD, Grüne, LINKE und FDP auf Einladung von erlassjahr.de und der Evangelischen Akademie Bad Boll zusammen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Kristina Rehbein, Politische Koordinatorin von erlassjahr.de, und Andrés Musacchio, Studienleiter an der Ev. Akademie Bad Boll.

Alle fünf Podiumsgäste betonten, dass die Überschuldung des Globalen Südens ein Problem für die sozial-ökologisch nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung darstelle und dass diese Krise bisher keinesfalls überwunden sei. Uwe Kekeritz (Bündnis90/Die Grünen, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (AwZ)) verglich die bisherigen Maßnahmen der G20-Staaten mit einem Rettungsring, den man einem Ertrinkenden zugeworfen habe, der damit jedoch allein im offenen Meer gelassen werde. Eva-Maria Schreiber (Obfrau im AwZ für die Fraktion der Linken) und Takis Mehmet Ali (Bundestagskandidat im Wahlkreis Lörrach-Müllheim für die SPD) betonten, dass die Forderung der UN nach einer Billion US-Dollar Schuldenerlasse keineswegs übertrieben sei und umgesetzt werden sollte. Im Rahmen der bisher ergriffenen Maßnahmen seien noch nicht einmal 1 Prozent dieser Summe gestrichen worden. Ali sprach sich dafür aus, dass auch Forderungen darüber hinaus für nachhaltige grüne Investitionen umgeschuldet werden sollten.

Von der Notwendigkeit eines Staateninsolvenzverfahrens sprechen Union und FDP in ihren Wahlprogrammen bislang nur auf der Ebene der Europäischen Union. Im Rahmen der Diskussionsrunde bekräftigten jedoch sowohl Johannes Selle (Mitglied im AwZ für die Unionsfraktion) als auch Olaf in der Beek (Mitglied im AwZ für die FDP-Fraktion), dass sie auch international die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens sehen. Ihre Parteien legten den Fokus jedoch zunächst auf die Europäische Union, da eine gemeinsame Lösung im Rahmen der EU leichter zu finden sei als koordiniert mit allen Gläubigern weltweit. Kritik wurde diesbezüglich insbesondere an der chinesischen Kreditvergabepraxis ausgesprochen, die koordinierte Lösungen erschwere.

Uwe Kekeritz und Eva-Maria Schreiber betonten zwar, dass auch sie die Kreditvergabepraxis Chinas in einigen Punkten problematisch fänden. Kekeritz verwies jedoch darauf, dass sich China 2014 in einem gemeinsamen Antrag der sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer für die Schaffung eines internationalen Staateninsolvenzverfahrens unter dem Dach der Vereinten Nationen eingesetzt habe – ein Antrag der damals unter anderem von Deutschland abgelehnt wurde.

Selle und in der Beek wiesen auf die strukturellen Ursachen der Überschuldung hin, die sie vor allem in den Schuldnerländern selbst ausmachten, und mahnten, dass immer neue Schuldenerlasse dafür nicht die Lösung sein könnten. Die Forderung der UN nach einer Billion US-Dollar Schuldenerlass bezeichnete in der Beek als Phantasterei. Die dafür notwendigen Mittel könne man nicht über die „Druckerpresse“ finanzieren. Kekeritz verwies als Replik darauf, dass für Schuldenerlasse keinesfalls neues Geld in den Umlauf gebracht – sprich: „gedruckt“ – werden müsse. Das Geld werde vielmehr durch Abschreibungen dem Umlauf entzogen und dadurch vernichtet.

Grundsätzlich waren sich alle Diskussionsteilnehmer*innen einig, dass private Gläubiger bei Schuldenerleichterungen mit einbezogen werden sollten. Doch beim Schuldenmoratorium der G20, der DSSI, haben sich Private trotz aller internationaler Appelle bislang nicht beteiligt; die Beteiligung am Rahmenwerk „Common Framework“ der G20 ist unklar. Dazu, wie die Einbindung verbindlicher geschehen könnte, gab es unterschiedliche Ansichten. In der Beek betonte, dass man weiterhin mit den Privaten reden müsse. Schreiber und Kekeritz unterstrichen die Notwendigkeit rechtlicher Regelungen und eines geordneten Verfahrens, in dem die Forderungen der verschiedenen Gläubiger inklusive der privaten gemeinsam verhandelt würden. Selle argumentierte, dass die Gläubiger von heute gleichzeitig die Kreditgeber von morgen seien und dass Schuldenerlasse daher den Kapitalmarktzugang von kreditnehmenden Staaten gefährden könnten. Kekeritz hielt dem entgegen, dass nicht nur die empirische Evidenz diesem Argument widerspreche. Kreditgeber hätten darüber hinaus durchaus ein Interesse an Schuldenerlassen, da diese dazu beitrügen, dass die Verschuldung eines Staates wieder tragbar würde – denn dann könnten sie auch wieder neue Kredite (zu akzeptablen Zinssätzen) gewähren. In Ländern mit untragbar hoher Verschuldung seien daher ausreichend hohe Schuldenerleichterungen für den Kapitalmarktzugang ausschlaggebend.

Abschließend wurde die Frage gestellt, welche konkreten Schritte zum Staateninsolvenzverfahren die Parteien in den ersten hundert Tagen nach der Wahl in Angriff nehmen würden, sofern sie an der nächsten Regierung beteiligt sein sollten. Olaf in der Beek betonte, dass im Hinblick auf die vielen anderen drängenden Themen Schulden im Globalen Süden in den ersten hundert Tagen wohl nicht oben auf der Agenda stehen würden. Man könne von Glück reden, wenn am Ende der gesamten Legislaturperiode Fortschritte erzielt worden seien. Ähnlich äußerte sich Johannes Selle. Er betonte, dass der Fokus zunächst auf der Schaffung eines solchen Verfahrens innerhalb Europas liegen sollte. Takis Mehmet Ali bemerkte, dass zunächst gesichert werden müsse, dass die Erleichterungen, die mit dem Schuldenmoratorium DSSI Ende 2021 final auslaufen, verlängert würden, da die Krise noch lange nicht überstanden sei. Darüber hinaus würden echte Erlasse benötigt. Ein erster Schritt sei es, sich innerhalb der EU um einen Konsens zu bemühen. Eva-Maria Schreiber formulierte, dass man sich zunächst auf Regierungsebene – das heißt mit den zuständigen Ministerien – zusammensetzen müsse, um konkrete Entwürfe zu erarbeiten. Im Anschluss müsse Deutschland sich um bilaterale Partner bemühen, um gemeinsam mit änderungswilligen Regierungen pro-aktiv voranzugehen. Uwe Kekeritz betonte, dass man sich bewusst sei, dass man bis zur Schaffung eines fairen und transparenten internationalen Staateninsolvenzverfahrens ein „dickes Brett zu bohren“ habe. Das wichtigste sei jedoch zunächst der politische Wille. Das erste Ziel, um das sich die Grünen bemühen wollten, sei daher ein klares „Ja“ der G20-Staaten, diesen Prozess zumindest anzugehen.

Wir danken allen Podiumsgästen für die offene und angeregte Diskussion und das Teilen ihrer Positionen! Darüber hinaus danken wir allen Teilnehmenden für ihr Interesse am Thema und der Evangelischen Akademie Bad Boll für ihre virtuelle Gastfreundschaft.

Wer weiter mit der Politik diskutieren möchte, hat dazu bereits am Donnerstag, dem 5. August 2021, um 19:00 Gelegenheit. Dann nämlich sind Uwe Kekeritz und Eva-Maria Schreiber bei einer Online-Diskussion zum Thema „Die globale Schuldenkrise: Wie packen wir sie an?“ zu Gast. Die Veranstaltung wird organisiert vom Oikocredit Förderkreis Bayern in Kooperation mit erlassjahr.de. Alle Infos zu Programm und Anmeldung sind hier zu finden.

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