erlassjahr.de hat sich sehr gefreut, dass der Bundesfinanzminister, dessen Haus einer der wichtigsten Blockierer von Fortschritten bei der geordneten und rechtsstaatlichen Überwindung von Überschuldungskrisen ist, sich dem kritischen Diskurs von erlassjahr.de beim Gottesdienst anlässlich des G7-Finanzministertreffens in Dresden ausgesetzt hat. Die Bischöfe Bohl und Koch haben es dort nicht an Klarheit und Eindringlichkeit im Hinblick auf faire Entschuldungsverfahren fehlen lassen. Im Rahmen einer Bibelarbeit zum Evangelischen Kirchentag in Stuttgart äußerte sich Wolfgang Schäuble nun zum Erlassjahr.
Ein Text von Jürgen Kaiser
Wolfgang Schäuble: Schuldenschnitte als Allheilmittel – da bin ich skeptisch. Aus den Büchern Mose kennen wir das Erlassjahr. Darauf bezieht sich die Erlassjahrinitiative. Ich habe vergangenen Mittwoch in Dresden den ökumenischen Gottesdienst besucht, den die Erlassjahrinitiative aus Anlass unseres Finanzministertreffens gehalten hat.
Jürgen Kaiser: Schuldenschnitte als Alleilmittel hat weder in Dresden noch sonst wo im Umfeld von erlassjahr.de jemand vertreten. So gesehen teilen wir die Skepsis von Herrn Schäuble. Bischof Bohl hatte in seiner Dresdner Predigt deutlich gemacht, wie die Möglichkeit zum fairen Schuldenerlass in Situationen, wo es notwendig ist, eine angemessene Übersetzung des Erlassjahr-Konzepts in die Welt einer modernen kapitalistischen Ökonomie ist. Genau dazu dient die verrechtlichte Entschuldung im Rahmen einer Insolvenzordnung, auf die Herr Schäuble im übernächsten Satz zu sprechen kommt.
Ganz wörtlich darf man das mit dem allgemeinen Schuldenerlass nicht nehmen, sonst müssten wir ja alle Sparer, Bausparer und Lebensversicherungsbeitragszahler enteignen. Wer einmal erlebt hat, wie ein Handwerksbetrieb wegen Uneinbringlichkeit seiner Forderungen zusammenbricht, weiß, dass auch die beste Insolvenzordnung kein einfaches Allheilmittel ist.
Ob Herr Schäuble hier dafür plädiert, dass die Schuldner des Handwerksbetriebs, die selbst zahlungsunfähig sind, vielleicht mit öffentlicher Unterstützung oder mit dem Schießeisen die Mittel heranschaffen sollen, die notwendig sind, um den wackeren Handwerker auszuzahlen, lässt er vorsichtshalber offen. Wenn ein Schuldner zahlungsunfähig ist – ob nun ein Besteller von Handwerksleistungen oder ein Staat – ist es ökonomisch unsinnig, darüber zu lamentieren, wie blöd das für den Gläubiger ist. Die eine entscheidende Frage lautet vielmehr: „Wie können wir mit den wenigen verbliebenen Ressourcen so umgehen, dass der Schuldner eine realistische Chance auf einen Neuanfang erhält, und der Schaden für den Gläubiger – die schließlich im Interesse eines Geschäfts in vollem Bewusstsein ein Risiko eingegangen ist – möglichst gering gehalten wird.
Auch hier findet sich indes wieder der seltsame Bezug auf ein „Allheilmittel“, und man gewinnt den Eindruck, dass mit dem Bezug auf eine Art Weltenrettung, die es naturgemäß nicht geben kann, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Potenzial, das eine geordnete Insolvenz für Staaten haben könnte, vermieden werden soll. Umso mehr, als danach einige Sätze folgen, die wirklich keinen Sinn ergeben.
Deswegen ist die alttestamentarische Forderung auch nie so richtig verwirklicht worden, so wie wir es ja mit dem Sabbatgebot leider auch nicht immer ganz so ernst nehmen.
Ob das Erlassjahr jemals umgesetzt worden ist im Alten Israel, ist in Wirklichkeit unter Historikern und Theologen umstritten. Jüngere Autoren (z. B. David Graeber) gehen davon aus, dass es tatsächlich umgesetzt wurde, weil es eben nicht exklusiv jüdisch war, sondern die Idee eines regelmäßigen Schuldenschnitts auch in benachbarten Kulturen nachweisbar ist. Aber, wie gesagt, es ist eine Frage, die wir nicht mit Gewissheit beantworten können – auch nicht mit „Nein“, wie Herr Schäuble es hier tut.
Ökonomisch nennt man übrigens einen allgemeinen Schuldenschnitt „Währungsreform“. Was dem üblicherweise vorausgeht, ist den älteren in unserem Land leider nur zu gut noch bekannt.
Diese populistische Kurve ist einfach nur peinlich. Schuldenschnitte für Staaten hat es in den letzten dreißig Jahren in über fünfzig Ländern gegeben. In wenigen Ländern waren diese Schuldenschnitte mit einer Währungsreform verbunden. Fragen von Währungsstabilität und von fiskalischer Tragfähigkeit sollte ein Finanzminister wirklich nicht durcheinander werfen. Es sei denn, er möchte an dieser Stelle den „Grexit“ propagieren, der dann tatsächlich eine Währungsreform mit angehängtem Schuldenschnitt wäre. Das aber hat nichts mit dem zu tun, worüber Herr Schäuble vorher und nachher spricht.
Weiter unten wird es dann etwas pragmatischer:
Im Verhältnis von Staaten ist das komplizierter, weil Zwangsvollstreckung so einfach nicht möglich ist. Zwar gibt es Regeln und Institutionen, Vereinbarungen zwischen Gläubigern und Schuldnern auch bei übermäßiger Staatsverschuldung. Die könnten auch verbessert werden. Insoweit stimme ich mit der Erlassinitiative durchaus überein.
Es ist sehr schade, dass Herr Schäuble an diesem spannenden Punkt nicht auf die Bedeutung des Erlassjahrs zurückkommt. Dass eine Insolvenzordnung für Staaten sich einerseits aus dem Grundgedanken des biblischen Erlassjahrs speist und andererseits in einem spannenden Prozess in den Vereinten Nationen aktuell konkret diskutiert wird, wäre aus dem Mundes des Finanzministers eine bemerkenswerte Konkretisierung dessen gewesen, was er selbst später in seiner Bibelarbeit als wertebasierte Politikgestaltung beschreibt. Er hat diese Gelegenheit verpasst, indem er wieder in der Sackgasse einer Währungsdiskussion verschwunden ist, als es darum ging, fiskalische und Schuldentragfähigkeit und Wege zu ihrer Erreichung zu diskutieren:
Aber das meiste erfolgt im internationalen Leistungsaustausch über Korrekturen im Austauschwert der Währung bis hin zum Währungsverfall. Für die ärmeren Länder gibt es auch immer wieder Schuldenerlasse. Wie weit die im Einzelfall notwendig und richtig sind, darüber wird immer gerungen.
Gerade weil – wie Schäuble fortfährt –
(i)n einer Währungsunion aber (…) diese Möglichkeit (fehlt), Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch Korrekturen des Austauschwerts der Währung für den einzelnen Staat auszugleichen(,)
hätte er hier die Chancen einer geordneten Staateninsolvenz thematisieren und mit anderen Akteuren darum „ringen“ können, „wie weit die im Einzelfall notwendig und richtig“ sind.
Das wäre auch für den Kirchentag, auf dem die Frage von Entschuldung seit den achtziger Jahren diskutiert worden ist und wo wie in Stuttgart selbst 1999 oder in Berlin 2003 historische Demonstrationen dazu stattgefunden haben, ein neuerlicher historischer Moment gewesen.
Fazit: Bei der Anhörung von erlassjahr.de parallel zum G7-Finanzministertreffen hat Dr. Ludger Schuknecht, Leiter der für die Internationalen Finanzbeziehungen zuständigen Abteilung des Ministeriums am Tag nach Schäubles Besuch im Gottesdienst deutlich gemacht, dass auch das Ministerium an Reformen interessiert sei.
Aber was tun das Ministerium und die Bundesregierung nun wirklich?
Es wäre ein großer Fortschritt für alle, wenn das Ministerium wahrnähme, wie weit diese Diskussion international bereits gediehen ist, und welches Potenzial sie nicht nur für die ärmsten Länder, zu deren Entlastung Herr Schäuble sich offenbar bereit finden möchte, bereits gediehen ist.