Große Koalition: Mitschuldig an der Staaten-Insolvenzverschleppung in Europa

Einen der besten Kommentare zum Koalitionsvertrags-Entwurf hat Wolfgang Münchau bei spiegel-online verfasst. Er zeigt, dass manches Klein-Klein um Lieblingsprojekte der roten oder der schwarzen Seite ziemlich absurd ist angesichts der bereits bestehenden und der womöglich gerade wieder neu zu übernehmenden Verpflichtungen aus der Eurokrise.

Es war die SPD, die teilweise gegen das Insistieren der CSU (!), die Fortschreibung der Verpflichtung auf ein geordnetes Staateninsolvenzverfahren aus dem letzten Koalitionsvertrag abgelehnt hat. Immer in der altbekannten Erwartung, dass die Staatspleite schon auf wunderbare Weise an uns allen vorbeigehen werde, wenn die Regierung den Kopf nur tief genug in den Sand steckt, und die Daumenschrauben für die ohnehin schon ausgepressten Griechen und Portugiesen nur noch ein paar Umdrehungen weiter angezogen werden.

Angesichts weiterer vier bleierner Jahre, freut man sich über jede/n Genoss/in, der/die “nein” sagt.

“Wir wollen uns nicht den gleichen Film immer wieder ansehen – der war eh’ Mist.”

Auf diese Formel brachte der Staatssekretär im Grenadinischen Finanzministerium, Timothy Antoine, das Bemühen seines Landes um eine neuartige und umfassende Entschuldung: Der Pazifische Tsunami hat seinerzeit 20% des BIP der betroffenen Länder vernichtet, Hurrikan Katrina 2% des BIP der USA. Grenada hat durch den Hurrikan Ivan an einem Nachmittag 200% verloren. Seine Schulden liegen jetzt über 110% des BIP; da sollte keiner eine kleine Schuldendiensterleichterung von ein paar Prozentpunkten über die nächsten paar Jahre vorschlagen. Das hatten wir schon in 2005, und das hilft jetzt nicht. Wir brauchen einen Schuldenschnitt.

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© erlassjahr.de

Bei der Podiumsdiskussion von erlassjahr.de, EURODAD und der Friedrich-Ebert-Stiftung im Rahmen der IWF-Weltbank-Jahrestagung zeigten Mathew Martin von  Debt Relief International und Gail Hurley von UNDP dass Grenada gut beraten ist, bei seiner klaren Haltung zu bleiben: Die später unter der HIPC-Initiative entschuldeten Länder waren in den 80er-Jahren auf eine endlose Umschuldungstour in den Pariser Club geschickt worden. Und Granda’s karibischer Nachbar Jamaica hatte jüngst zwei Mal versucht, durch eine Teil-Umschuldung nur seiner heimischen Staatsschulden wieder Luft zu bekommen – beide Male vergeblich.

Am Wochenende hatte Grenada’s Wirtschaftsminister in einem Beitrag für den Guardian deutlich gemacht, dass eine Entscheidung über Schuldenerlass von Grenada auf eine unabhängige Analyse der Schuldentragfähigkeit bauen muss, und dass das beste Format dafür eine Gläubigerkonferenz in Grenada selbst wäre. Beides sind Schlüsselelemente des von erlassjahr.de seit langem geforderten fairen und transparenten Staateninsolvenzverfahrens.

Zusammen mit JubileeUSA, UNDP und Debt Relief International unterstützt erlassjahr.de nun die Organisation einer solchen Konferenz. Viel Zeit gibt es dafür allerdings nicht: Im Dezember muss Grenada seinen Haushalt 2014 verabschiedet haben. Das wird nicht ohne Finanzierung aus dem IWF möglich sein. Und die wiederum setzt eine Einigung über Umfang und Gestaltung eines Schuldenschnitts voraus.

Die mit den Krawatten sind die vom IWF…

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© erlassjahr.de

Wieder mal versuchen wir, zusammen mit Kolleg/innen aus Entschuldungsbewegungen aus der ganzen Welt beim großen Welt-Parteitag des Kapitals die Forderung nach fairer Entschuldung an den Mann zu bringen. Um das zu erreichen, verkleidet man sich tunlichst mit einer möglichst grauen Joppe – die mehr Liberalen tragen hellgrau. Krawatte weglassen; so outet man sich dann immer noch als NRO. Und dann ab in einen der unendlich vielen Konferenzräume in den verschiedenen Liegenschaften von IWF und Weltbank in der Innenstadt von Washington. In diesem Fall zusammen mit einigen europäischen IWF-Exekutivdirektoren bzw. ihren Stabsmitarbeitern, mit denen NROs (überwiegend rechts im Bild) über Steuern und eine faire Entschuldung reden wollten.

Zwei große Themen im Zeitraum etwa einer Fussball-Halbzeit. Da erwartet man besser keine tief gehenden Diskussionen, und auch überraschende Neuigkeiten kommen nur dann ans Tageslicht, wenn man die Damen und Herren mit einer Frage oder Position überraschen kann.

In diesem Fall betraf das einen IWF-ED, der meinte, der IWF solle besser überhaupt keine Kredite mehr vergeben, sondern nur noch grünes oder rotes Licht für andere Gläubiger geben. Damit traf er sich durchaus mit unserer Forderung nach einem Ende der fatalen Doppelrolle des IWF als Gläubiger und Gutachter.

Ansonsten hörten wir, der Griechenland-Schuldenschnitt sei alles in allem ein toller Erfolg gewesen – was nicht ganz auf der Höhe der Evaluierungen des IWF-Stabes selbst ist. Und dass der Fonds unter HIPC/MDRI gar keine Schuldenerlasse gewährt habe, und wegen seines Status als Preferred Creditor auch (z.B. den Griechen oder Grenadinern) nie welche gewähren würde. Eine erstaunliche Aussage angesichts der Tatsache, dass der letzte HIPC-Status of Implementation Report von WB/IWF allein 2,3 Mrd. US-$ Debt Relief through the MDRI by the IMF ausweist.

Hat eigentlich mal jemand untersucht, ob diese engen Krawatten sich irgendwie auf die Blutzufuhr nach weiter oben auswirken?

Mindestens 60% Schuldenerlass für Grenada!

Diese Forderung ist eines der Ergebnis des heute zuende gegangenen Workshops des Grenadinischen Kirchenrats in der Insel-Hauptstadt St.George’s. Nur wenn die Schulden des Staates, die aktuell 109% des BIP ausmachen auf weniger als 50% gedrückt werden, hat das Land eine Chance, aus der Überschuldungssituation herauszuwachsen. Und das setzt einen Schuldenschnitt in der Größenordnung von zwei Dritteln voraus.

Zwei Tage lang hatten Mitglieder des Kirchenrats zusammen mit Fachleuten von UNDP, JubileeUSA, dem Karibischen Schuldennetzwerk und erlassjahr.de an einer Beurteilung der Schuldentragfähigkeit der Insel gearbeitet. Bei der Übergabe der Abschlusserklärung erklärte Wirtschaftsminister Oliver Joseph, dass auch die Regierung entschlossen ist, einen weitreichenden Schuldenerlass durchzusetzen, da nach Jahren der anhaltenden Überschudungskrise eine erneute Finanzierung des laufenden Schuldendienstes durch Neukreditaufnahme “keine Option mehr ist”. Und zu unserer Überraschung ließ sogar der anwesende Vertreter des IWF durchblicken, dass auch die Empfehlung des Fonds sich in dieser Größenordnung bewegen.

Der Kirchenrat wird nun sehr detailliert verfolgen, mit welchem Ergebnis die Delegation des Landes von den Gesprächen mit Stab und Leitung des IWF aus Washington in der kommenden Woche zurückkommen wird.

Die Regierung bat den Kirchenrat und seine internationalen Partner um Unterstützung bei der Überzeugung der bilateralen Gläubiger. Deutschland gehört allerdings nicht zu ihnen.

Nobelpreisträger für ein Staateninsolvenzverfahren

Argentinien hat vor dem New Yorker Berufungsgericht seinen Einspruch gegen das Urteil zur Zahlung von 1,3 Mrd. US-$ an den Geierfonds NML Capital verloren. Die Folgen dieses Urteils (wenn der Oberste Gerichtshof es nicht noch kassiert) für das internationale Schuldenmanagement im Allgemeinen hat Nobelpreisträger Joe Stiglitz in einem Kommentar für den Guardian schön auf den Punkt gebracht: Ohne einen verlässlichen Rahmen für umfassende Entschuldungsverfahren wird das Urteil künftig informelle Entschuldungen wie im Pariser Club z.B. unmöglich machen, weil Gläubiger nun die Hoffnung haben, für alle Zeiten Vermögen des Schuldnerlandes pfänden zu können.

Eurokrise: Die Deutsche Industrie will klauen gehen

Vor Ausbruch der Eurokrise hat die deutsche Industrie mit Griechenland glänzende Geschäfte gemacht. Nützliches und viel Unnützes wurde von den Hellenen bereitwillig und auf Pump aus Deutschland importiert. Der hiesige Boom der letzten Jahre hat eine Menge mit der Importneigung in Südeuropa zu tun und dem Glauben, dass Staaten immer zahlungsfähig sein werden.

Mit der faktischen Staatspleite Griechenlands mussten die deutschen Exporteure plötzlich um die Begleichung ihrer Rechnungen fürchten. Der IWF und seine Gefährten in der Troika taten alles, um per Austerität und frischem öffentlichem Geld so viele Altschulden wie möglich bezahlen zu lassen. Gereicht hat das der deutschen Industrie nicht – zumal die Privatisierungserlöse, die der IWF in seine Vorhersagen eingestellt hatte, viel zu optimistisch waren.

Da denken deutsche Konzernlenker schon mal gerne über Alternativen nach. In diesem Fall der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Markus Kerber. Er hat ein Auge auf das in Griechenland trotz Austerität und Privatisierung nach wie vor existierende öffentliche Vermögen “in dreistelliger Milliardenhöhe” geworfen. Nun fordert er, dass dieses pauschal und in toto der Verfügung des Griechischen Staates entzogen und dem ESM unterstellt werden soll. Dieser könne dann die Veräußerung dieses Vermögens an private Investoren so vorantreiben, wie es der griechische Staat ganz offensichtlich nicht hinbekomme.

Mit seinem Vorschlag will Kerber ein Dilemma umgehen, welches die Gläubiger von Staaten auf der ganzen Welt umtreibt: Selbst mit gültigen Verträgen und ebenso gültigen Gerichtsurteilen für eine eventuelle Zwangsvollstreckung in der Hand können sie nicht auf das Vermögen des Schuldnerstaates zugreifen. Griechische Gerichte werden nicht in das inländische Vermögen des eigenen Staates hinein vollstrecken, und ausländisches Vermögen besteht in der Regel nur aus diplomatischen Liegenschaften und unterliegt damit der vom Völkerrecht geschützten “souveränen Sphäre” eines Staates. Wie praktisch wäre es da, wenn Land, Infrastruktureinrichtungen, öffentliche Unternehmen oder gar Kulturgüter plötzlich gar nicht mehr dem griechischen Staat gehören, sondern einem – wie Kerber formuliert – europäischen Schatzamt, zu dem der ESM sich weiter entwickeln solle.

Neu sind solche Gedanken wahrlich nicht. Anfang des letzten Jahrhunderts blockierten europäische Kriegsschiffe Venezuelas Häfen, um über die Zolleinnahmen des Landes Schulden des Landes bei europäischen Banken und Unternehmen einzutreiben. Und als 40 Jahre später die deutsche Industrie ein Auge auf industrielle Anlagen in Griechenland und anderen Ländern geworfen hatte, machte sie sich nicht die Mühe irgendwelcher juristischer Konstruktionen. Sie schickte die Panzer der Wehrmacht und die Arisierungskommandos der SS. Dagegen wirkt Herrn Kerber’s Bemühungen um eine Umgehung des Völkerrechts fast schon zivilisiert.

Up North

Von ihrem südlichsten Auftritt machte sich die erlassjahr-Ausstellung “Geschichten der Schuldenkrise” in dieser Woche auf den Weg zu ihrem nördlichsten: Von Puchheim bei München ging es nach Itzehoe. Das liegt am Unterlauf der Elbe, rund 50km nordwestlich von Hamburg. Dazwischen lagen lange Kilometer auf sonntäglichen deutschen Autobahnen auf einem Kleinlaster, der gerade noch unterhalb der Grenze für Sonntagsfahrverbote durchrutscht.

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© erlassjahr.de

Neu und besonders ist für erlassjahr.de aber nicht nur die Distanz zwischen den beiden Ausstellungsorten, sondern auch, dass die beleuchteten Stelen erstmals in einer Schule stehen, dem örtlichen Sophie-Scholl-Gymnasium. Nach einem Krankenhaus, einem Einkaufszentrum, vielen Kirchen und Gemeindehäusern, sind wir nun gespannt, wie die Botschaft und die Form der Ausstellung unter Menschen zwischen 10 und 18 ankommen wird.
Die Eröffnung verlief schon sehr vielversprechend (Bericht in der Lokalpresse): Zusammen mit der Schulleiterin stellten wir nicht nur Interessierten aus dem Kollegium, sondern auch Abgeordneten aus Stadt und Land Inhalt und Methodik von “Geschichten der Schuldenkrise” vor. Bis zum 15. September werden nun vor allem Erkunde-Lehrer/innen mit ihren Klassen in’s Thema einsteigen. Danach wird wieder gepackt, und es geht zurück – nach Bayern!

Deep South

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© erlassjahr.de

Am Montag ist die erlassjahr-Ausstellung “Geschichten der Schuldenkrise” an ihrem vorläufig südlichsten Punkt angekommen. Seit heute morgen steht sie im Evangelischen Gemeindehaus in Puchheim, einem sonnigen Vorort im Münchner Speckgürtel.
Und während der Fahrer und Koordinator noch mit Leitplanken und Insektenattacken hadert, macht Bündnisrat Prof. Dr. Walter Ulbrich sich mit dem Lötkolben an die Rettung der in der bisherigen Ausstellungsgeschichte doch recht mitgenommen Kopfhörerstecker. Damit auch künftige Besucher sich an fragen können “Würden Sie diesem Mann die Schulden erlassen?” und “Wie ist Herr Brazico nur vor DIESES Tribunal geraten?”

Puchheim ist die Hochburg einer sehr lebendigen Brasilien-Solidaritäts-Szene, deren Mitglieder in vielen Nahkämpfen mit windigen Exportfinanzierern und Münchner Atomstrom-Liebhabern in Ehren ergraut sind. Ein bisschen kann man das auf dem Photo auch sehen!

Suchbild: Finden Sie die Entwicklungszusammenarbeit

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Quelle: “The Age of Austerity – How we got into this mess, development impacts, and what to do?” – Presentation by Isabel Ortiz

Bei der EURODAD-Konferenz in Prag zeigte Isabel Ortiz vom US Think Tank “Institute for Policy Dialogue” eine bemerkenswerte Graphik zu den Internationalen Finanzströmen im Krisenjahr 2009. Die nebenstehende Pyramide zeigt von unten nach oben die öffentlichen Rettungsmittel für den Bankensektor der reichen Länder, die Wachstumsförderungsprogramme für deren Volkswirtschaften (wer erinnert sich noch an die tolle “Abwrackprämie”?), die Mittel, die der IWF für die Stützung der Ökonomien der Entwicklungsländer bereit gestellt hat, und schließlich in grün ganz oben die Öffentliche Entwicklungshilfe im gleichen Jahr.

 

Grenada-Tagebuch IV: Dankbarer Minister und eine Andacht am Kabinettstisch

Minister (mit Jacket) empfängt die Stellungnahme der Zivilgesellschaft
Minister (mit Jacket) empfängt die Stellungnahme der Zivilgesellschaft / © erlassjahr.de

Zum Abschluss des Schulden-Workshops in Grenada hat Pfarrer Osbert James, Stellvertretender Vorsitzender des Kirchenrats von Grenada Wirtschaftsminister Oliver Joseph die Empfehlungen der Zivilgesellschaft für eine faire und umfassende Entschuldung Grenadas übergeben. Der Minister eilte mit dem Dokument in der Hand zurück ins Parlament, wo es diverse Gesetze zu verabschieden gab. Montag morgen werden die Empfehlungen des Kirchenrats für eine unparteiische Entschuldungskonferenz am Konferenztisch debattiert werden.

Praktischerweise wird Father Sean Doggett an dem Morgen die Andacht turnusmäßig zum Beginn der Kabinettssitzung halten. Sitzungen welcher Art auch immer beginnen nämlich Grenada immer mit einer Andacht, und da auf dieser kleinen Insel ohnehin jeder jeden kennt oder man zumindest einen gemeinsamen Bekannten hat, wird Sean vor seiner Andacht das eine oder andere Kabinettsmitglied noch auf die Dringlichkeit der zu besprechenden Vorlage aufmerksam machen können.

Montag Nachmittag gibt es dann eine offizielle Rückmeldung an den Kirchenrat, und wir werden wissen, ob die Regierung unter einer “umfassenden Schuldenreduzierung” dasselbe versteht wie wir, oder vielleicht doch etwas ganz anderes. Heute – so wurden wir informiert – ist die IWF-Mission gelandet. Montag kommt deren Chef nach, und dann werden die Herren aus Washington die Regierung wissen lassen, was Sie sich unter einer umfassenden Schuldenreduzierung vorstellen. Vermutlich etwas sehr anderes.

Hier sind zweieinhalb intensive Arbeitstage nun zuende. Ich muss gleich noch ein paar Sätze in die Kameras des Kirchenrates sagen, und morgen gibt es von unserer Seite noch eine kleine Pressekonferenz. Ansonsten freue ich mich auf einen Sprung ins Meer vor Sonnenuntergang und darauf, meinen Bericht mal nicht auf einem Flughafen zu schreiben, sondern morgen früh auf meinem wunderschönen Balkon, bevor es Sonntag wieder zurück in die offenbar ungemütlich-regnerische Heimat geht.