Island zeigt: Man kann NEIN sagen

Am letzten Wochenende haben die Isländer in einer Volksabstimmung die Vereinbarung zur Schuldentilgung ihrer Regierung mit den Niederlanden und Grossbritannien zurückgewiesen. Es ging dabei um die langfristige Begleichung von rund 4 Mrd. €. Mit diesem Betrag hatten die beiden Regierungen kurzerhand ihre Sparer entschädigt, nachdem die isländische Icesave-Bank pleite gegangen war. Vom isländischen Staat wollen sie nun ihr Geld zurück. Im Interesse des geplanten EU-Beitritts hatte die Mitte-Links-Regierung der Premierministerin Sigurdardottir sich auf den Deal eingelassen. Die Isländer/innen sagten nun “nein”.
Die öffentlichen Reaktionen auf die ziemlich sensationelle Entwicklung in Island waren erstaunlich positiv. Schließlich war das Verhalten der beiden Regierungen im Haag und in London ein mindestens so einseitiger und fragwürdiger Schritt wir die Zahlungseinstellung der Isländer. Diese sind mit Recht einigermaßen gelassen, was mögliche Reaktionen der Gläubiger angeht. Deren wichtigstes Druckmittel – Islands EU-Beitritt zu verhindern – hat in den Zeiten der Euro-Krise einiges an Schrecken verloren.
Positiv kann man drei Dinge aus dem mutigen Schritt der Isländer lernen:
Erstens geht die Welt entgegen den routinemäßigen Drohungen aus den Kreisen der Gläubiger am Tag nach einer solchen einseitigen Zurückweisung NICHT unter. Schuldnerregierungen können Zahlungen einstellen, ohne dadurch von internationalen Kredit- und sonstigen Märkten abgeschnitten zu werden, besonders, wenn die in Rede stehenden Forderungen so fragwürdig sind, wie in diesem Fall. Man kann nur Regierungen auf der ganzen Welt ermutigen, sich von dem Beispiel der Isländer inspirieren zu lassen.
Zweitens sind Gläubiger, die Geld von Staaten zurück wollen, gut beraten, ein Forum für zivilisierte Verhandlungen zwischen Schuldner und Gläubigern anzubieten. In Kolonialherrenmanier selbst innenpolitisch Regelungen zu schaffen, und dann zu erwarten, dass die Schuldnerländer nach diesen Regeln tanzen, ist nicht einmal mehr aus ihrer eigenen Sicht erfolgversprechend. Auf ein faires und unparteiisches Verfahren, welches einen Interessenausgleich und nicht die größtmögliche Gläubigerbefriedigung zum Ziel hat, haben die Isländer einen nicht nur moralischen Anspruch.
Drittens hat die isländische Bevölkerung sich mit der Abstimmung ein Stück Hoheit über ihre öffentlichen Finanzen zurückerobert. Die katastrophale Entwicklung für die Anleger und die isländische Bevölkerung hat ihre Wurzeln im weitgehend unregulierten Agieren der isländischen Banken. Dass die Isländer/innen sich dafür demonstrativ nicht in Haft nehmen lassen, ist ein erster Schritt zur Verhinderung der gleichen Entwicklung in der Zukunft. Man muss lange in der Geschichte zurückblicken, um ein Beispiel dafür zu finden, dass eine Bevölkerung so direkt Einfluss auf die Zahlung oder Nicht-Zahlung von Schulden genommen hätte. Der einzige Fall der mir dazu einfällt, ist die Schweiz im Jahre 1992. Dort wurde ebenfalls durch eine Volksabstimmung entschieden, dass die Eidgenossen mit Schuldenerlassen von symbolstarken 700 Mio SFr die ganze (verschuldete) Welt an der Freude über 700 Jahre Eidgenossenschaft teilhaben lassen wollen. Das schönste an dem innovativen Schweizer Programm war indes, dass tatsächlich die Menschen, denen komplexe internationale Finanzbeziehungen angeblich nicht zu vermitteln sind, dort wie auch in Island, sehr wohl eine mutige und in der Sache gute Entscheidung zu treffen verstanden.

Das klarste Argument für eine Staatspleite besteht darin, dass sie ohnehin nicht zu vermeiden ist

Rund um diese einfache, aber zutreffende Wahrheit zerpflückt Lucas Zeise in der FTD vom 15.3. die Versuche der Regierungen in der Eurozone, sich um die Schaffung eines Insolvenzmechanismus herumzumogeln. Der ganze Artikel kann hier nachgelesen werden.
Wie es scheint, werden wir nach der Entscheidung des Europäischen Rates die Lebenslüge, dass Staatspleiten nicht sein können weil sie nicht sein dürfen, noch oft vorgesetzt bekommen.

Wie Griechenland Deutschland die Schulden erließ

Hermann Josef Abs unterzeichnet das Londoner Schuldenabkommen 1953 /Bild: unbekannt
Hermann Josef Abs unterzeichnet das Londoner Schuldenabkommen 1953 / © Deutsche Bank AG, Kultur und Gesellschaft Historisches Institut, Frankfurt am Main, CCL 3.0

Kaum jemand glaubt in Europa noch daran, dass Griechenland ohne einen Kapitalschnitt, d.h. einen Teilerlass seiner Auslandsschulden wirtschaftlich wieder lebensfähig werden kann.

Trotzdem beharrt die Bundesregierung, im Verein mit den anderen Mitgliedern der Eurozone, darauf, dass ein Teilschuldenerlass nicht stattfinden darf. Vom Zusammenbruch der Eurozone über die Verluderung der Sitten auf den internationalen Finanzmärkten werden Horrorszenarien für den Fall einer Schuldenerleichterung an die Wand gemalt.
Dabei ist die jüngere Wirtschaftsgeschichte nicht gerade arm an Schuldenerlassen zugunsten von souveränen Staaten. Einer dieser Fälle ist die Streichung von rund der Hälfte aller ausstehenden deutschen Verbindlichkeiten durch 22 Gläubigerstaaten im “Londoner Schuldenabkommen” von 1953. Einer dieser Gläubiger war Griechenland.

Zusammengebrochen ist infolge des Schuldenerlasses nichts und niemand. Im Gegenteil: Niemand würde in der Rückschau der Einschätzung des damaligen deutschen Verhandlungsführer H.J. Abs (im Bild zu sehen bei der Unterzeichnung des Abkommens) widersprechen, der konstatierte, dass die umfassende Entlastung der (west-)deutschen Volkswirtschaft ein entscheidender Baustein für das spätere “Wirtschaftswunder” war.

Über den eigentlichen Erlass hinaus wies das Abkommen aber eine Reihe von qualitativen Elementen auf, die für Griechenland und andere hoch verschuldete Länder heute ebenso segensreich wären, wie sie es damals für Deutschland, keine zehn Jahre nach dem Ende des von ihm begonnenen Weltkriegs, waren:

• Der Erlass deutscher Schulden durch Griechenland wurde nicht von der Umsetzung eines Spar- oder Strukturanpassungsprogramms abhängig gemacht. Im Gegenteil: Deutschland wurden verschiedene explizit wachstumsförderne Vergünstigungen und Möglichkeiten zu einer expansiven Geldpolitik eingeräumt.

• Das Abkommen schloss eine Schiedsklausel für künftige deutsche Zahlungsschwierigkeiten ein. Über eventuelle weiter gehende Lösungen für Griechenland und andere hoch verschuldete Länder behalten sich die Gläubiger die letzte Entscheidung in Institutionen wie dem Pariser Club, dem IWF oder durch die Gemeinschaft der Anleihegläubiger vor.

• Deutschlands Schuldenindikatoren lagen deutlich unter denen von Griechenland heute. Der Schuldenstand der Hellenen beträgt rund 100% des BIP; er wird absehbar ohne Schuldenschnitt bis 2014 auf rund 140% ansteigen. Deutschland hatte vor dem Abkommen 1952 eine Quote von 21% des BIP; nach der vollen Umsetzung der Entlastung 1958 waren es noch 6%.

• Deutschland erhielt die Option, künftig seinen Schuldendienst bei einem Handelsbilanzdefizit auszusetzen. Implizit verpflichteten sich die Gläubiger, deutsche Handelsbilanzüberschüsse zuzulassen, also in Deutschland mehr einzukaufen als man dorthin ausführte, damit Deutschland seinen Schuldendienst aus laufenden Einnahmen und nicht etwa aus seinen Devisenreserven bzw. aus der Aufnahme neuer Kredite bestreiten konnte. Letzteres ist genau der Mechanismus, der Griechenland durch den Europäischen Rettungsmechanismus nahe gelegt wird, und der mit katastrophalen Folgen auch zwei Jahrzehnte gegenüber den hoch verschuldeten ärmsten Ländern praktiziert wurde.

• London war ein umfassendes Abkommen über öffentliche und private deutsche Auslandsverbindlichkeiten. Dagegen werden die Griechen – wenn überhaupt verhandelt wird – mit jeder Gläubigergruppe einzeln verhandeln müssen; da die wichtigsten Gläubiger die Inhaber von Staatsanleihen sind, müssen sie sogar mit den Zeichnern jeder Einzelanleihe gesondert verhandeln. Das ist nicht nur aufwändig, sondern schafft für jeden Gläubiger auch einen Anreiz, keine Zugeständnisse zu machen – in der Hoffnung, dass die jeweils anderen es tun, und man selbst ungeschoren davon kommt.

Wenn die Bundesregierung sich schon nicht dazu durchringen kann, mit einem heutigen Schulden ebenso großzügig umzugehen, wie dieser es seinerzeit mit Deutschland tat, sollte sie es wenigstens aus dem eigenen Interesse an einer effizienten Regelung tun. Solange nicht mal das geschieht, kann man sich als Kind des Wirtschaftswunders für den hierzulande gepflegten Diskurs vom faulen und verschwenderischen Griechen nur schämen.

Zum Mittagessen nach Quito

Als Mitglied der “Auditoria-Kommission”, die 2007 und 2008 die Schulden Ecuadors auf ihre Legitimität überprüfte, erhielt erlassjahr.de zu Jahresbeginn eine Einladung zum Mittagessen im “Garandolet”, dem Präsidentenpalast in Quito. Da unmittelbar vor der Einladung am vergangenen Freitag eine zweitägige Konferenz unserer langjährigen Partnerorganisation Jubileo2000 Red Guayaquil stattfand, liess sich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Im schwülen Guayaquil rangen wir mit Kolleg/innen aus verschiedenen Netzwerken innerhalb und außerhalb Ecuadors um die nächsten Schritte auf dem Weg zum Schulden-Schiedsverfahren. In der Kühle des andinen Quito wurden bei exzellentem Wein und Speisen über die weitere Arbeit an der Frage der Legitimität von Ecuadors Schulden beraten.
Das war nicht immer die reine Idylle, denn innerhalb Ecuadors ist es seit unserer Arbeit vor drei Jahren zu zahlreichen Konflikten zwischen dem Präsidenten und wichtigen Mitstreitern gekommen – u.a. wurde z.B. der Umweltorganisation Acción Ecologica zwischenzeitlich die Rechtsfähigkeit entzogen. Auf diesem Hintergrund mochten nicht alle Auditor/innen der freundlichen Einladung Rafael Correas Folge leisten.
Mit Correa und dem Außenminister Ricardo Patiño wurden wir uns einig, dass auch die Kritik der Kommission an den Multilateralen Schulden nun in konkrete Handlungen münden müsse. Am Montag Morgen traf sich dazu eine kleine ad-hoc-AG aus ehemaligen Auditor/innen und Mitarbeitern des Außenministeriums. Wenig Neigung zeigte der Präsident indes, auch die gerade von erlassjahr.de kritisierten Forderungen einiger bilateraler Gläubiger – namentlich Brasilien, Italien und Spanien – in Frage zu stellen. Da ist der politische Rückhalt gerade bei Brasilien und Spanien für das kleine Ecuador wohl doch zu wichtig.

Too big to fail

Die EZB freundet sich heute mit dem Gedanken an, in weit größerem Umfang als bisher Staatsanleihen überschuldeter europäischer Staaten zu kaufen. Was noch im Sommer ein ordnungspolitischer Tabubruch war, ist heute nur noch eine technische Frage: Wieviel Geld der Zentralbank(en) soll nun genau aufgewendet werden, damit die Pleite europäischer Staaten nicht die dort engagierten Banken aus den anderen Gläubigerländern in den Abgrund reisst?
Die Formel für dieses Tabubruch heisst “too big to fail”. Gemeint ist damit, dass die großen deutschen Banken angefangen von der großen Deutschen Bank bis zu den bereits technisch pleite gegangenen Instituten wie HRE oder HSH für die deutsche Volkswirtschaft zu wichtig sind, um ihre Schuldner nicht mit Steuerzahlergeld wieder liquide zu machen.
Es ist richtig, dass die Störungen für die deutsche Volkswirtschaft bei einer um sich greifenden Pleite wichtiger Banken beträchtlich wären. Auch gesunde Unternehmen könnten zwischenzeitlich ernste Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Liquidität bekommen. Zumindest vorübergehend.
So groß ist die Angst der Regierenden vor diesem Szenario, dass sie den Bruch mit einem der grundlegenden marktwirtschaftlichen Prinzipien nur noch schulterzuckend zur Kenntnis nehmen. Die Konsequenzen dieser Haltung sind fatal, denn mit dem “too big to fail”-Diskurs signalisieren die Regierenden den Inhabern der Schuldverschreibungen: “Ihr habt uns in der Hand. Da wir es jetzt nicht wagen, Euch in Schwierigkeiten geraten zu lassen, spricht nicht viel dafür, dass wir es morgen tun werden.”
Das ist aus der Sicht eines deutschen Steuerzahlers eine sehr unschöne Situation. Richtig unappetitlich wird sie aber erst, wenn sie mit dem dünkelhaften Diskurs unterfüttert wird, Deutschland sei nun wieder mal dabei, Europa und die Welt zur retten. Dann erinnert die Haltung der Bundesregierung an das Kleingedruckte in den HIPC-Entschuldungsinitiativen der 1990er und 2000er Jahre.
Damals hatte beim Kölner Gipfel der damalige Kanzler Schröder namens der G8 den ärmsten Ländern der Welt großzügig eine umfassende Entlastung von ihren Auslandsschulden im Rahmen der HIPC-Initiative gewährt. Dargestellt wurde das Ganze überdies als Eingehen auf die Forderungen der Erlaßjahr2000-Kampagne.
Erst beim zweiten Hinsehen wurde deutlich, dass die bahnbrechenden Schuldenerlasse durch IWF, Weltbank und Afrikanische Entwicklungsbank weitgehend aus den Entwicklungshilfehaushalten der reichen Länder gegenfinanziert wurden. Das heißt: Unter dem Strich bezahlten diejenigen, denen diese Mittel ohne Schuldenerlass zugute gekommen wären, den Schuldenerlass selbst. Die Begründung für diese Gegenfinanzierung war, dass die Multilateralen Banken die größten und wichtigsten Entwicklungsfinanciers weltweit seien, deren Fähigkeit zur Unterstützung der ärmsten Länder unter allen Umständen erhalten werden müsse.
Nun macht diese Argumentation nur unter der Annahme Sinn, dass die fraglichen Entwicklungshilfegelder – wenn sie nicht an Weltbank & Co geflossen wären, von den Entwicklungsminister/innen in den nächsten Gully geworfen worden wären. Dann hätten in der Tat die ärmsten Länder einen realen Verlust erlitten. Täten sie das nicht, hätte man die Mittel beispielsweise für andere multilaterale Töpfe, wie etwa den Global Fund, das UN Entwicklungsprogramm oder auch ganz klassisch bilateral zum Segen der Ärmsten einsetzen können. Nicht unbedingt besser, aber auch keinesfalls schlechter als die Weltbank es tat.
Die Folge wäre aber gewesen, dass die großen Internationalen Finanzinstitutionen erheblich kleiner geworden wären. Vielleicht hätte sich sogar gezeigt, dass die eine oder andere der mehr als 100 Weltbank-Fazilitäten und Treuhandtöpfe gänzlich überflüssig war.
Quantitativ, d.h. im Blick darauf wieviel Geld tatsächlich von Nord nach Süd fließt, wäre das vielleicht ein Nullsummenspiel geworden (vielleicht auch nicht). Qualitativ aber hätte das bedeutet, dass die Internationalen Finanzinstitutionen, die sich in den achtziger Jahren ein lukratives Geschäftsmodell aufgebaut hatten, indem sie den Schuldendienst längst zahlungsunfähiger Staaten an Banken und Regierungen aufrecht erhielten, für diese Politik einen Preis gezahlt hätten. Das heisst, sie hätten für die Konsequenzen ihres Tuns wirtschaftlich einstehen müssen, was eine der unerlässlichen Voraussetzungen dafür ist, dass eine Marktwirtschaft funktionieren kann. Und vielleicht hätte eine solche für die Washingtoner Institutionen bittere Erfahrung sogar dazu geführt, dass man nach 2008 etwas weniger rasant mit neuen Kreditfinanzierungen zur Aufrechterhaltung des Schuldendienstes der eigentlich bankrotten Staaten Griechenland und Irland in die Bresche gesprungen wäre. Und statt dessen nach wirksamen Wegen gesucht hätte, die privaten Investoren an den Kosten des von ihnen angerichteten Schadens zu beteiligen.
Aber schon damals waren diese (Welt-)Banken “too big to fail”.

Glaubt Rogoff!

Es ist ermutigend zu beobachten, wie sich auch auf den Kommentarseiten der Financial Times Deutschland die Erkenntnis durchsetzt, dass sich die finanzielle Lebensfähigkeit einiger Eurostaaten ohne einen geordneten Schuldenschnitt nicht wiederherstellen lassen wird. Das war in der ersten Phase der europäischen Staatsschuldenkrise noch etwas ambivalenter, und die Lieblingsargumente der Gläubiger – z.B. “wer eine Option auf eine geregelte Insolvenz haben will, bekommt ab sofort keinen Kredit mehr” – tauchte auch in internen wie externen Kommentaren der “Agenda”-Seiten auf.
Inzwischen gewinnt die Einsicht, dass es ohne Schnitt nicht gehen wird, die Oberhand, und das ist ein gutes Ergebnis für eine durchaus offen ausgetragene Debatte. Der vorletzte und seit langem beste Beitrag dazu stammt von dem Harvard-Professor und ehemaligen IWF-Chefökonomen Ken Rogoff.
Der Kommentar trägt den Titel “Zweite Halbzeit der Krise” und ist im Netz unter http://www.ftd.de/politik/konjunktur/:staatspleitenpanik-rogoff-jetzt-kommt-die-zweite-halbzeit-der-euro-krise/50202775.html zu finden, Die englische Originalfassung kann auch unter www.project-syndicate geladen werden.
Rogoff spricht die Punkte an, denen sich auch die EU-Verantwortlichen werden stellen müssen, wenn sie 2013 (oder womöglich früher) tatsächlich Staatspleiten nicht mehr mit Mitteln aus dem Europäischen Rettungsfonds übertünchen können:
• Die drastischen Sparprogramme drohen die PIGS-Staaten in genau die gleiche Art von “verlorenem Jahrzehnt” zu schicken, wie es Lateinamerika zwischen 1982 und 1990 durchlebte; seinerzeit bestand das Hauptinteresse der westlichen Gläubigerstaaten auch zuallererst darin, die eigenen Banken und (US-)Sparkassen über Wasser zu halten. Damit diese aus den verschuldeten Ländern weiterhin Geld bekamen, wurden in großem Stil öffentliche Mittel in die bereits zahlungsunfähigen Staaten gepumpt und mit ebenso rigiden wie desaströsen Strukturanpassungsprogrammen verknüpft.
• Die Bundeskanzlerin hat als einzige europäische Regierungschefin erkannt und beizeiten offen gesagt, dass die kontinuierliche Refinanzierung von Schuldendienst keine Lösung sein kann, und Europa deshalb einen Insolvenzmechanismus braucht.
• Leugnen der Krise war noch nie eine gute Strategie – und selten wurde so heuchlerisch geleugnet wie beim EU-Bankenstresstest, im letzten Frühjahr. Umgekehrt kann die europäische Bankenkrise durchaus bewältigt werden, wenn die notwendigen Abschreibungen und Forderungsverzichte durchgesetzt werden.
• Mit dem Rettungsfonds hat Europa bereits unwiderruflich einen bedeutenden Teil der faulen Kredit sozialisiert. Selbst wenn der wünschenswerte Schuldenschnitt kommt, wird er nur noch zum Teil die eigentlichen Zocker treffen. Ein Teil trifft bereits die öffentlichen Haushalte. Das aber unterstreicht gerade die Notwendigkeit, einen Schuldenschnitt so bald wie möglich umzusetzen. Auch in Lateinamerika zeigte sich im Nachhinein, dass ein frühzeitiger Schnitt unter’m Strich für fast alle die bessere Lösung gewesen wäre als die praktizierte Insolvenzverschleppung.

Was Irland und Portugal (und die EU) aus der Entschuldung der Entwicklungsländer lernen sollten

Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano leitet seine pointierten Betrachtungen zur Geschichte Lateinamerikas damit ein, dass der Mensch Augen am Hinterkopf haben sollte, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Die aktuelle Diskussion um eine eventuelle Beteiligung des Privatsektors an der Überwindung der Überschuldungen von Irland, Griechenland, Portugal und anderen unterstreicht seinen Punkt.
Die deutsche Bundesregierung als größter Beitragszahler im Rahmen jeglicher EU-Gemeinschaftsanstrengungen hat einen Vorschlag entwickelt, in Zukunft bei Staatsüberschuldung nicht nur die Steuerzahler des verschuldeten Landes und anderer europäischer Länder für die Krise zahlen zu lassen, sondern zumindest einen Teil der Verluste auf die Investoren abzuwälzen, die sich in Erwartung hoher Renditen und in Kenntnis der Risiken in den betroffenen Ländern engagiert haben. Berlin propagierte seinen Vorschlag zugegebenermaßen ziemlich dilettantisch – sowohl was die Form der Präsentation gegenüber den europäischen Partnern angeht, als auch im Blick auf seine Substanz.
Aber sie hat – neben den Finnen, die sich jüngst unterstützend zum deutschen Vorstoß geäußert haben – erkannt, dass es einen Paradigmenwechsel braucht. Nicht einmal einen dramatischen, wenn man genau hinsieht, denn was Schäuble und Merkel fordern, ist nichts anderes, als die Beendigung eines absurden Anachronismus: Überall auf der Welt ist eine Bedingung für das Funktionieren von Marktwirtschaften, dass der Ertrag einer Investition positiv mit dem realwirtschaftlichen Ergebnis verknüpft sein muss. So funktionieren binnenstaatliche Kapitalmärkte, und auf dieser Grundlage regeln auch Insolvenzgesetze den Umgang mit der Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners, wenn die Dinge denn einmal schief gelaufen sind.
Nur bei Staaten wird absurderweise davon ausgegangen, dass sie stets zahlungsfähig sind, es mithin kein Risiko gibt, der Investor aber gleichwohl eine Prämie (den “Spread”) für ein “offiziell” inexistentes Risiko kassieren kann. Diesen Knoten endlich durchhauen zu wollen, ist das große Verdienst der deutschen Bundesregierung – wie tapsig auch immer sie sich dabei angestellt haben mag.
Blicken wir im Sinne von Galeano zurück: Als ab 1982 eine Reihe großer lateinamerikanischer Staaten pleite ging, entschieden sich die Gläubiger-Regierungen ein halbes Jahrzehnt lang, den Schuldendienst an die (privaten) Gläubiger zu refinanzieren, anstatt diese den längst eingetretenen Verlust tragen zu lassen. Erst ab 1989 ging dieser Spuk durch den sogenannten “Brady-Plan” zuende. Als etwa zu dieser Zeit auch eine Reihe der allerärmsten Staaten vor allem in Afrikas südlich der Sahara längst keinen Schuldendienst mehr an ihre nördlichen Gläubigerregierungen zahlen konnten, entschlossen sich die Gläubiger, bis 1996 den bilateralen Schuldendienst von Weltbank und Währungsfonds finanzieren zu lassen – bis auch diese Schulden nicht mehr bedient werden konnten, und ein komplizierter Schuldenerlass-Prozess im Rahmen der HIPC-Initiative auf den Weg gebracht werden musste. Der war langwierig, unvollständig und im Vergleich zu einem schnellen und tiefgreifenden Schnitt teuer für alle Beteiligten.
Die Frage ist nun, ob die europäischen Schuldner-Länder auf den gleichen Weg geschickt werden – oder ob der deutsche Vorschlag eine Alternative dazu bietet. Sie wird sich daran entscheiden, ob die Regierungen der starken Länder weiterhin darauf setzen wollen, die Illusion der Schuldendienstfähigkeit aufrecht zu erhalten – selbst in Zeiten, da Irland und Portugal längst Spreads für ihre Kreditaufnahme aufbringen müssen, als sei ein Kapitalschnitt schon unvermeidlich. Diese Konstellation ist hoch-attraktiv für die Anleger, während die den EFSF garantierenden Staaten dadurch zu Opfern einer Erpressung werden. Und da die Bedrohung, der sie mit ihren Rettungsfinanzierungen entgegentreten wollen, tendenziell eine permanente ist – die Gefahr einer Staats-Überschuldung kann nirgendwo und zu keiner Zeit im Grundsatz ausgeschlossen werden – ist auch die Erpressbarkeit von Dauer. Entgehen kann die Bundesregierung und kann die EU ihr nur durch genau die Art von Regeln, die Berlin auf den Weg bringen will: Wie jeder Kredit ist auch der an eine öffentliche Körperschaft selbstverständlich mit einem größeren oder kleineren Risiko verbunden. Und dieses Risiko hat in erster Linie der Investor zu tragen.
Damit diese Alternative auch praktisch umsetzbar wird, braucht es in erster Linie Regeln, die (a) verlässlich sind und (b) von allen Beteiligten, zu denen auch die Bevölkerung der kreditnehmenden Staaten gehört, als fair empfunden werden. Da war es mehr als unglücklich, dass der deutsche Finanzminister mit seinen berüchtigten Sprechzetteln die EU aufmischte, als seine Fachleute im Ministerium selbst noch keine genauen Vorstellungen – geschweige denn einen Konsens auf Kabinettsebene -vorweisen konnten. Das heisst aber nicht, dass ein tragfähiger Vorschlag für die Eurozone nicht in den nächsten Monaten entwickelt werden – und dann auch die Diskussion um einen globalen Entschuldungsmechanismus, dem die G20 sich dringend zuwenden müssten, befruchten könnte.
Wovor die europäischen Entscheidungsträger keinesfalls Angst haben sollten, ist die durch die Fachpresse geisternde Befürchtung, dass Länder, die einen Schuldenschnitt erzwingen, sich damit auf Dauer von den Kapitalmärkten ausschließen. Solche Weltuntergangs-Szenarien wurden bislang noch vor jeder der real existierenden Entschuldungsinitiativen von den Privatgläubigern und ihren Interessenvertretern an die Wand gemalt. Eingetreten sind sie noch nie. Wo es tatsächlichen zu dauerhaften Schwierigkeiten beim Kapitalzugang kam, hing dies durchweg mit den politischen Begleitumständen einer Zahlungseinstellung zusammen, und nicht mit der Schuldenreduzierung selbst. Der Regelfall war das genaue Gegenteil: ein entschuldeter Staat ist logischerweise für jeden Kreditgeber attraktiver als einer, der unter einem Berg von Altlasten stöhnt. Eigentlich genau die Art von Neuanfang, die Irland und Portugal in absehbarer Zeit brauchen werden.

Vom Sinn und Unsinn eines europäischen Staateninsolvenzverfahrens

Am vergangenen Samstag bekam die Kanzlerin ihren Willen: In ihrer zweiten Arbeitsphase wird sich die Arbeitsgruppe der EU-Finanzminister unter dem Vorsitz von Herman van Rompuy mit der Schaffung eines geordneten Insolvenzverfahrens für EU-Staaten beschäftigen.
Hintergrund: Im April 2010 musste die Bundesregierung zur Abwehr einer umfassenden Bankenkrise in großem Stil öffentliche Mittel zur Rettung der in Griechenland exponierten deutschen und europäischen Banken bereitstellen. Weil der Rest Europas sich danach mit der Institutionalisierung eines hauptsächlich von Deutschland und Frankreich finanzierten Europäischen Rettungsfonds für insolvente Staaten sehr gut anfreunden konnte, war die Bundeskanzlerin unter erheblichem Druck, Alternativen zu einem permanenten Bail-out europäischer Staaten – genauer gesagt: von deren Gläubigern – zu finden.
Sie tat dazu das einzig richtige, indem sie auf die Schaffung eines geordneten Insolvenzverfahrens drängte, welches im Ernstfall auch zu Verlusten für die in den betroffenen Ländern engagierten (privaten) Gläubigern führen würde. Allerdings trat die Bundesregierung dabei so tollpatschig auf, dass sie selbst erhebliche Widerstände gegen ihren Vorschlag produzierte: Als in der eigens eingerichteten Arbeitsgruppe der EU-Finanzminister unter Vorsitz des Ratspräsidenten van Rompuy die Frage eines Insolvenzverfahrens zum Tragen kam, gab es nicht einmal einen schriftlichen Vorschlag der Deutschen, sondern lediglich Sprechzettel des Finanzministers.
Im Mai wurden dann sehr allgemeine Leitsätze auf der Homepage des BMF veröffentlicht. Und erst im September wurde der deutsche Vorschlag erstmals in einem (vertraulichen) Papier so dingfest gemacht, dass andere Regierungen und eine Öffentlichkeit (die das Papier, weil vertraulich, aber eigentlich gar nicht kennen durfte), sich dazu verhalten konnte.
Im Kern läuft der deutsche Vorschlag auf ein zweistufiges Verfahren hinaus. Die erste Stufe besteht aus einem Tausch der Staatsanleihen eines potenziell zahlungsunfähigen EU-Mitglieds gegen geringer bewertete Papiere. Dieser Haircut soll den Gläubigern dadurch versüßt werden, dass die neuen Papiere durch EU-Mittel abgesichert werden. Wie schon beim “Brady-Plan”, der eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der lateinamerikanischen Schuldenkrise in den 80er Jahren spielte, sollen die Gläubiger Nennwert gegen Sicherheit tauschen. Damals hat das leidlich gut funktioniert – allerdings betrugen die Abschläge in einigen Ländern mehr als 50% des Nennwerts, was heutzutage im EU-Kontext kaum vorstellbar ist.
In der zweiten Stufe soll dann – wenn die erste Stufe die Tragfähigkeit der Schulden des betreffenden Landes nicht wiederherzustellen vermag – ein eigentliches Insolvenzverfahren folgen, d.h. die Reduzierung aller Verbindlichkeiten des betreffenden Landes in einem Planverfahren. Anders als die erste Stufe ist die zweite in dem Papier der Bundesregierung aber noch höchst vage formuliert.
Beim EU-Gipfel Ende Oktober setzen die Deutschen die Befassung mit ihrem Vorschlag in der zweiten Arbeitsphase der van Rompuy-Arbeitsgruppe durch. Die Kanzlerin machte sich, als sie die Grundlage dafür in trauter Zweisamkeit mit Präsident Sarkozy schuf, nicht nur Freunde in Europa, aber sie bekam ihren Willen. Allerdings blieben einige ihrer ohnehin nicht sonderlich durchdachten Lieblingsideen dabei auf der Strecke:
• “Berliner Club” wird die neue Institution nicht heißen. Das kam in Frankreich, wo man auf die ungeschmälerte Kompetenz des bereits bestehenden “Pariser Clubs” allergrößten Wert legt, nicht gut an.
• Auch der Begriff “Insolvenzverfahren” ist aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Statt dessen spricht man nun von “der Einbeziehung des Privatsektors”. Gemeint ist, wie Berliner Ministeriale versichern, aber dasselbe.
• Überschuldete Staaten mit dem Entzug ihrer EU-Stimmrechte unter Druck zu setzen, wie von den Deutschen propagiert, war nicht nur ökonomisch eine kontraproduktive Schnapsidee. Es demonstrierte überdies eine vordemokratische Denkweise, welche Mitbestimmungsrechte am wirtschaftlichen Status festmacht. Zum Glück ließ der Rest Europas, sich das von Berlin nicht bieten.
Bis Anfang 2011 erarbeitet die van Rompuy-Arbeitsgruppe unter deutscher Federführung einen Vorschlag, der noch vor Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit Kroatien im kommenden Frühjahr zu einer Veränderung des Vertrags von Lissabon führen soll.
Aus der Sicht der weltweiten Entschuldungsbewegung ist der deutsche Vorschlag sehr ambivalent:
▪ Positiv ist, dass eine Schuldenreduzierung zulasten der Privatanleger nicht mehr – wie noch im April bei der Griechenland-Rettung – ausgeschlossen wird.
▪ Es ist auch denkbar, dass die erste Stufe des deutschen Vorschlags tatsächlich zu einem modifizierten europäischen Rettungsmechanismus führen wird. Und es darf gehofft werden, dass unter den besonderen Bedingungen des Euro-Raumes, eine nächste Griechenland-Krise damit im Ansatz entschärft werden kann.
▪ Ein echtes Staateninsolvenzverfahren allerdings, das nicht nur Fälligkeiten umstrukturiert, sondern dem betreffenden Land einen tatschälichen Neuanfang ermöglicht, ist regional gar nicht umsetzbar. Schließlich ist Griechenland nicht nur bei solchen Gläubigern verschuldet, die sich direkt oder indirekt auf der Grundlage der Verträge von Lissabon zu einer Schulden-Restrukturierung zwingen lassen. Von anderen essenziellen Elementen eines rechtsstaatlichen Verfahrens wie unparteiischer Entscheidungsfindung und unparteiischer Bestimmung des Erlassbedarfs gar nicht zu reden.
▪ Negativ ist politisch, dass die Deutschen ihre zwischenzeitlich angekündigte Initiative im G20-Kreis für ein Staateninsolvenzverfahren, welches allen überschuldeten Staaten zugute kommen könnte, erst mal wieder auf Eis gelegt haben. Hier kann nur weiterer politischer Druck dafür sorgen, dass die Bundesregierung ihren eigenen Koalitionsvertrag so ernst nimmt, wie es ihrer nicht nur Europa-sondern weltpolitischen Verantwortung entspricht.

Pakistan: Zu kleine Katastrophe für einen Schuldenerlass

Im Oxfam/Avaaz-Aufruf für einen Schuldenerlass zugunsten Pakistans heißt es: “Nach Angaben der Vereinten Nationen waren die Auswirkungen der Flut in Pakistan schlimmer als die des Tsunamis, des Erdbebens in Pakistan 2005 und des Erdbebens in Haiti 2010 zusammengenommen. Über 20 Millionen Menschen sind bislang von den Überschwemmungen betroffen und ein Ende der Krise ist nicht abzusehen.”
Legt man die absoluten Zahlen der Betroffenen und der angerichteten Zerstörung zugrunde, stimmt die Einschätzung der Kollegen zweifellos. Der IWF rechnet indes anders: Er hatte nach dem Erdbeben auf Haiti eine spezielle Fazilität geschaffen, durch die Streichung von Schulden beim IWF für solche Länder ermöglicht werden sollte, die besonders unter Naturkatastrophen zu leiden haben: den “Post-Catastrophe Debt Relief Trust”. Diese Fazilität im Programm des Fonds war eine Reaktion darauf, dass nach dem Erdbeben, der IWF satzunngskonform nur mit neuen Krediten, und nicht etwa mit Zuschüssen dem zerstörten Land zu Hilfe kommen konnte. Eine durchaus sinnvolle Regelung, denn eine weitere Internationale Institution, die offizielle Entwicklungshilfebudgets anzapft, um Mittel durch die eigene Bürokratie zu schleusen und an arme Länder weiter zu reichen, braucht wirklich kein Mensch. Gleichwohl war klar, dass Haiti seinen Aufbau nicht per Kredit würde finanzieren können. Der Ausweg bestand in der Schaffung des PCDR, der die nachträgliche Refinanzierung der IWF-Schulden aus eigenen Mitteln des IWF vorsah. Im Prinzip funktioniert auch der IWF/Weltbank-Schuldenerlass unter der HIPC-Initiative nicht anders.
Wer aber wird davon profitieren? Der Vorstand des IWF legte rigide Kriterien fest, und stellte genau so viel Geld bereit, wie notwendig war, um die Schulden Haitis beim IWF aus der Welt zu schaffen. Genau wie bei HIPC gingen die IWF Verantwortlichen davon aus, dass man soeben die letzte große Katastrophe der Menschheitsgeschichte bewältigt habe, und ein weiterer Finanzierungsbedarf im Rahmen des neu geschaffenen Instruments ohnehin nicht bestehe.
Und tatsächlich: Die Zugangsbedingungen wurden so formuliert, dass Pakistan (“sorry, sorry”) leider nicht betroffen genug ist. Um in den Genuss eines Schuldenerlasses durch die PCDR zu kommen, muss
• das Land IDA-Status bei der Weltbank haben. Den hat Pakistan.
• Ein Viertel der produktiven Kapazität des Landes durch die Katastrophe verloren sein. In Pakistan pendeln sich die Schätzungen in der Größenordnung von 15% ein.
• Ein Drittel der Bevölkerung betroffen sein. In Pakistan sind es etwa 20 von 172 Mio Menschen, also “nur” rund 12%.
Somit kommt Pakistan nicht in den Genuss von Schuldenerleichterungen. Zwar lag sein Schuldenstand im Verhältnis zu den jährlichen Exporteinnahmen mit 220% schon Ende 2008 deutlich über dem Wert, den Haiti nach seinem kurz vor dem Erdbeben gewährten HIPC-Schuldenerlass erreichte. Aber Regeln sind nun mal Regeln. Und so erhält Pakistan vom IWF eine grosszügige Wiederaufbauhilfe von 767 Mio US-$, wodurch der Schuldenstand beim IWF auf knapp 9 Mrd. US-$ steigt.
Besonders enttäuschend ist in diesem Zusammenhang die bisherige Haltung der deutschen Bundesregierung. Auch, wenn die Schulden beim IWF eine gefährlich wachsende Bedrohung darstellen, sind die Schulden bei den bilateralen Gebern quantitativ bedeutender. Und mit der Schuldenumwandlungsfazilität des BMZ hätten die Deutschen ein Instrument, um die Schuldenstreichung mit der Bereitstellung von Wiederaufbaumitteln unmittelbar verknüpfen zu können. Und Masse für eine sinnvolle Entlastung gibt mit 1,2 Mrd. € Entwicklungshilfeschulden und 231 Mio € Handelsschulden in Deutschland allemal.

erlassjahr.de vor dem Weißen Haus

Aus Anlass der Jahrestagung von IWF und Weltbank organisierte Jubilee USA nicht nur eine Reihe von Veranstaltungen innerhalb und außerhalb der Internationalen Finanzinstitutionen, sondern auch eine “Ketten-Demonstration” von der Weltbank zum Weißen Haus.

Quer durch die Staaten hatten Jubilee-Unterstützer aus Kirchen, Gewerkschaften und Eine-Welt-Gruppen in den letzten Wochen bunte Kettenglieder gebastelt und teils mit persönlichen Botschaften beschriftet. Diese wurde von etwa 500 Demonstrant/innen am Freitag, dem 9. Oktober 2010 zu Beginn der eigentlichen Gouverneurstagung von Bank und Fonds durch die Straßen Washingtons getragen.

Da erlassjahr.de heute die zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellte neue FTAP-Studie vorstellt, konnte ich natürlich auch bei der Demo dabei sein, und vor dem Weißen Haus das mitgebrachte erlassjahr.de-Banner in Szene setzen. In diesem Fall mit der Hilfe unserer Freunde von Jubilee San Diego, mit denen wir schon beim vorletzten Kirchentag in Bremen eine gemeinsame Veranstaltung organisiert hatten.
Die Demo war nicht groß, aber bunt und laut: Sogar eine amerikanische Version des “Hai des Jahres” war mit von der Partie – schon etwas abgenagt, und dem IWF liebevoll gewidmet. Die Freund/innen der “Stop-IMF-Coalition” kamen in der etwas martialischen Aufmachung des schwarzen Blocks, aber selbst ihnen gegenüber blieben die Polizisten – überwiegend auf Fahrrädern der Marke “Smith & Wesson” (!) – friedlich.

Für mich war es die erste Demo im Jacket. Schließlich musste ich unmittelbar danach wieder zurück in die Weltbank. Dort stellte die Debt Management Abteilung ein neues Buch zum Thema Sovereign Debt Management vor. Interessanterweise erstmals mit einem Kapitel über die Option eines Internationalen Insolvenzgerichtshofs – aus der Feder des Berliner Völkerrechtlers Christoph Paulus. Ansonsten war es allerdings eine fix dröge Veranstaltung: Fünf Herren in grauen Anzügen sagten zur insgesamt rund fünfzig weiteren grauen Herren (und einigen wenigen ebenfalls grau beanzugten Damen) mehr oder weniger kluge Dinge über das Buch, das sie selbst geschrieben haben. Ein afrikanischer Delegierter hinter mir begann zur Mitte der Veranstaltung vernehmlich zu schnarchen. Ich konnte es ihm nicht verdenken.
Bei unserer eigenen Buchvorstellung heute nachmittag wird das hoffentlich nicht passieren. Und wenn doch, werde ich ein paar Witze erzählen oder einen Teil meines Vortrags singen.